Das Recht der Erde (Carlsen)

Februar 1, 2023
Das Recht der Erde - Eine Erzählung über den Boden, der uns trägt (Carlsen Verlag)

Anderthalb Stunden mag es nach wissenschaftlichen Schätzungen nur gedauert haben. Dann waren sie an der Wand, die Kohle-Zeichnungen in der Höhle von Pech Merle im Südwesten Frankreichs. Angefertigt von einem unbekannten Künstler. Vor über 20.000 Jahren. Darunter ein kleines Mammut, skizzenhaft, mit nur wenigen Strichen und dennoch markant wie lebendig, so als wäre es gerade vorübergezogen und sogleich aus dem Gedächtnis festgehalten. Dann im Nordosten des Landes: Ein kleines Dorf namens Bure in Lothringen. Hier entsteht Frankreichs Atommüllendlager, gegen den Widerstand von Teilen der Bevölkerung, das immerhin 100.000 Jahre halten muss. Bure liegt etwa 800 Kilometer von Pech Merle entfernt. Etwa acht Autostunden. Oder einen Monat zu Fuß. Genau diesen Weg und diese Reise wählt Autor und Zeichner Étienne Davodeau, und verbindet damit zwei grundlegend verschiedene Relikte, die Menschen in der Erde hinterlassen, die zehntausende von Jahren überdauert haben oder genau dies noch müssen.

Davodeau ist ein erfahrener Wanderer, als er im Juni und Juli 2019 auf diesem Weg aufbricht. Nur ist dieses Mal nicht nur der Weg das Ziel, zumal er von Beginn an plant, seine Reise in einem Buch, einer Graphic Novel festzuhalten, wodurch ein gewisser Druck auf der Reise lastet. Er will damit beim Leser auch ein Bewusstsein schaffen, für die Schönheit zeitloser Kunst, für die Natur, das Wandern, die Einsamkeit und vor allem für die Haut des Planeten, den Boden, auf dem wir uns bewegen. Und schließlich das, was wir ihm gerade antun. Die Art und Weise, wie Davodeau seinen Band strukturiert, wird bald klar, denn er bedient sich eines bestimmten wie cleveren Kniffs: Immer wieder erscheinen auf seinem Weg imaginäre Begleiter. Das sind Wissenschaftler oder Aktivisten, mit denen er vor seinem Reiseantritt Interviews führte und die er hier nun unterwegs samt ihren Ausführungen virtuell als Gesprächspartner auftreten lässt. So lernen Leserinnen und Leser, was es mit Atommüll eigentlich auf sich hat, wie Kernenergie funktioniert, welche wichtige Rolle der Boden spielt. Oder auch, wie sich der Widerstand in und um Bure organisiert.

Diese Episoden sind lehrreich, mitunter aber auch textlastig und bremsen die Wanderschaft Davodeaus dann ein Stück weit aus. Denn das ist die andere Seite des Bandes: Der Reisebericht. Die anfänglichen Strapazen bis sich der Körper an das ständige Laufen und das Gepäck gewöhnt. Tage lang niemandem begegnen, willkommene Einsamkeit in Perfektion. Wandern als Gefühl von Freiheit. Weite Landschaften – vom bergigen Zentralmassiv und den erloschenen Vulkanen in der Auvergne bis zu den Ebenen im Nordosten. Kleine Dörfer, intensive oder flüchtige Begegnungen mit Anwohnern, teilweise auch skurril und witzig. Dazwischen immer Selbstreflexion und Selbstfindung. Das Zurückziehen in das Ich (einmal wunderbar visualisiert), der Spaß am Laufen wie auch der Frust bei schlechter Laune und/oder schlechtem Wetter.

Frankreich setzt nach wie vor in erster Linie auf Kernenergie, trotz zehntausender Tonnen radioaktiven Mülls, der sich inzwischen angesammelt hat und den es zu „verwalten“ gilt. Proteste gegen das geplante Endlager gibt es, aber lange nicht in dem von Aktivisten erhofftem Ausmaß, was auch daran liegt, dass der Staat den Anrainer-Gemeinden und – Orten massive Geldgeschenke in Form von Investitionen gewährt. Étienne Davodeau (u.a. „Die Ignoranten“, ebenfalls bei Carlsen) fasst seine aufklärende Reisereportage in fast schon zarte Bilder mit feinem Strich und sanften Grautönen. Wo es geht, lässt er die dünn besiedelten Landschaften wirken, ohne viele Worte. Seine Haltung zum Endlager in Bure, das nach und nach zum zentralen Thema wird, ist klar und wird durch die wissenschaftlichen Ausführungen der „virtuellen Gastläufer“ untermauert. Interessant auch die Frage, wie man das Wissen um das Endlager und dessen Gefahren über 100.000 Jahre weitergeben will. Sinn, Zweck und Urheber der Höhlenmalereien gingen ja immerhin „schon“ nach einem Fünftel der Zeit verloren… (bw)

Das Recht der Erde
Text & Bilder: Étienne Davodeau
216 Seiten in Schwarz-Weiß, Hardcover
Carlsen Verlag
27 Euro

ISBN: 978-3-551-77130-8

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