Gullivers Reisen (Splitter)

Januar 10, 2022
Gullivers Reisen: Von Laputa nach Japan (Splitter Verlag)

London, im August 1706: Kapitän Robinson spricht bei seinem alten Freund, dem Arzt Lemuel Gulliver, vor – auf seiner neuesten Expedition nach Ostindien will er den alten Gefährten gerne dabei haben. Der kann auch aufgrund der winkenden Entlohnung nicht nein sagen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass man nicht wieder in Länder reist, die von Liliputanern oder Riesen bevölkert sind. Aber natürlich läuft auch diese Fahrt alles andere als glatt: auf einer Frachtexpedition gerät Gulliver mit seinem Schiff erst in einen Sturm und wird dann von Piraten aufgebracht, die ihn auf einem verlassenen Eiland aussetzen. Dort schwebt alsbald eine riesige fliegende Insel herbei, die auf den Namen Laputa hört und von seltsamen Gestalten bevölkert ist: die Bewohner sind durchgeistigt, können sich kaum konzentrieren und führen dennoch ein bequemes Leben, indem sie von sich von den sichtlich verelendeten Einwohnern der Gebiete, die man überfliegt, reichlich mit Proviant versorgen lassen und dafür mit nutzlosem, realitätsfernen Wissen „bezahlen“.

In Lagado, der Hauptstadt des Landes Balnibarbi, trifft Gulliver auf Munodi, der als Statthalter herrscht und den Wissenskult seiner ehemaligen Heimat Laputa versucht hat, auch in seinem Herrschaftsgebiet zu etablieren. Dieses Experiment ging allerdings gehörig schief: die Häuser verfallen, während sich Pseudo-Gelehrte in der Wissenschaftsakademie in allerlei absurden Experimenten ergehen (so etwa versucht man, aus Gurken Sonnenlicht zu erzeugen, und baut Häuser vom Dach beginnend). Irgendwann wird es Gulliver dann zu bunt, und er beginnt nach einem Abstecher zu den Geisterbeschwörern von Glubbdubdrib über das Reich Luggnagg die gefahrvolle Reise nach Japan, von wo er dann nach London aufbricht…

Jonathan Swifts Roman „Gullivers Travels“ aus dem Jahr 1726 gehört zu den bekanntesten Werken der englischen Literatur, das allerdings im allgemeinen Bewusstsein außerhalb der Hörsäle und Literaturseminare nur zur Hälfte populär wurde. Durch zahlreiche bereinigte und gekürzte Fassungen kennt buchstäblich jedes Kind die Reisen ins Lande Liliput und Brobdingnag, wo es unser Held zuerst mit kleinen und dann mit riesenhaften Wesen zu tun bekommt, was auch die Basis für die bunten Kinoversionen bildet, darunter das schöne Sonntag-Nachmittags-Abenteuer „The Three Worlds of Gulliver“ mit hübscher Stop Motion von Ray Harryhausen aus dem Jahr 1960. Was alle diese Versionen unter den Tisch fallen lassen, sind die weiteren Reisen des Schiffsarztes, die schon aus dem Originaltitel des Romans hervorgehen: „Travels into Several Remote Nations of the World in Four Parts By Lemuel Gulliver, first a Surgeon, and then a Captain of Several Ships“.

In Teil Drei, den Bertrand Galic in dieser Graphic Novel adaptiert, kommen die satirischen Züge, die in den ersten Reisen noch zurückhaltender waren, vollends an die Oberfläche: Swift gießt beißenden Spott über realitätsferne, absurde Wissenschaft, die keinem Zwecke außer sich selbst dient (im Roman versucht man sogar, aus Exkrementen wieder Nahrungsmittel zu erzeugen), und haut seinen englischen Landsleuten mehr als offenkundig um die Ohren, wie schamlos man die Herrschaftsgebiete Schottland und Irland ausbeutet. Monarchie und Adel werden ebenso rücksichtslos demaskiert wie soziale Konventionen, was sich auch in der Gestaltung durch Paul Echegoyen wiederfindet: die Bewohner von Laputa wirken wie stilisierte Holzschnitte, deren Sprache Echegoyen als ziselierte Buchstaben evoziert, und das Elend von Lagado erscheint in düsteren Szenerien der verfallenden Stadt.

Das bitterste Kapitel von Gullivers Ausflügen erspart uns allerdings auch Bertrand Galic (zumindest derzeit noch?): im vierten Teil des Romans reist Gulliver schließlich ins Reich der weisen Pferde, der Houyhnhnms, die Güte und Vernunft in Reinkultur verkörpern, während die degenerierten Menschen als „Yahoos“ vor sich hin vegetieren (womit wir denn auch endgültig wissen, was denn der Name dieser Suchmaschine bedeutet). Gulliver selbst findet nach seiner Heimkehr keinen Anschluss mehr an die Menschheit und verbringt sein Leben bei den Pferden im Stall, erfüllt mit Abscheu und Ekel. So weit wollen wir es dann doch nicht kommen lassen und erfreuen uns an der hier vorliegenden, hübsch eingerichteten Adaption einer scharfen Satire von allerlei intellektuellen und sozialen Phänomenen. (hb)

Gullivers Reisen: Von Laputa nach Japan
Text: Bertrand Galic, nach Jonathan Swift
Bilder: Paul Echegoyen
120 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro

ISBN: 978-3-96792-166-3

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