Cinema Purgatorio (Dantes Verlag)

Juni 10, 2022
Cinema Purgatorio (Dantes Verlag)

„Komm, wir gehen ins Kino!“ Auf einem launigen Plakat der späten 70er, Anfang 80er hatte es den Eindruck, eine Dame in Schlaghose reiche einem mit dieser Aufforderung da munter die Hand. Das nahmen wir natürlich gerne an und begaben uns immer wieder in die Orte, die auf klingende Namen wie „Burglichtspiele“ oder „Apollo Kino“ hörten: nicht mehr ganz taufrische, ein wenig angeranzte Säle, selbstredend mit nur einer Leinwand, draußen einem Foyer mit Aushangfotos, die wir mit heißen Ohren bestaunten, und einem kleinen Häuschen, in dem ein mürrischer Kartenverkäufer harrte, bevor dann ein ebenso mürrischer Platzanweiser mit Taschenlampe den Weg zum Sitzplatz wies. Was für die heutige Multiplex- und Streaming-Generation klingt wie das sprichwörtliche Märchen von anno dazumal, das erlebten wohl nicht nur wir als Initiation in die Filmwelt, sondern auch das Renaissance-Genie des Comics: Alan Moore.

In der Anthologie „Cinema Purgatorio“ kam mit der feschen „Code Pru“ ja schon einmal eine Hommage an diverse Monsterheulerstreifen zu Ehren, in der eine von „The Boys“-Schöpfer Garth Ennis ersonnene Notfallsanitäterin so ziemlich alle Ungeheuer der Filmgeschichte trifft. Im Hauptband der lockeren Serie von Abseitigkeit steigt nun Schirmherr Alan Moore selbst in die Bütt und zündet dabei das unnachahmliche Feuerwerk von Anspielungen, Querverweisen, philosophischen Ausritten, Parodien und Hommagen, das wir von diesem Multitalent bestens kennen. Eine nicht näher benannte, auch optisch im sogenannten „First Person Point of View“ auftretende Protagonistin (sprich, wir als Betrachter schlüpfen in die Rolle der Hauptfigur, kennt man ja aus diversen Videospielen) wird magisch von einem doch eher in die Jahre gekommenen Kino angezogen, das unter dem Titel „Cinema Purgatorio“ ganz getreu des Mottos „Wer hier eintritt, lass alle Hoffnung fahren“ für das sorgt, was das Fegefeuer in Dantes Göttlicher Komödie erledigt: die Konfrontation mit dem eigenen Selbst zur endgültigen Katharsis.

Die läuft in kurzen Episoden ab, in der die Dame jeweils ein Kinomagazin namens „Screen Regrets“ durchblättert, sich beim Kassendrachen Edith immer wieder ein neues Ticket besorgt, an ihren Sitz geleitet wird und dabei immer wieder mal dem Kinobetreiber Mr. Flicker über den Weg läuft. Dabei schickt uns Moore auf einen Parforce-Ritt durch die Filmgeschichte, der jeweils charakteristische Formate aufgreift, die Inhalte jedoch radikal auf den Kopf stellt und damit ein facettenreiches Vexierspiel veranstaltet. Da gerät ein ganz offenkundig an die Keystone-Cops-Reihe von Mack Sennett angelehntes Slapstick-Vehikel zum Slasher-Fest (mit Querverweis auf den medienwirksamen Skandal um „Fatty“ Arbuckle), am Set eines Sandalenfilms stellen zwei Römer fest, dass ihre ganze Welt nur aus Filmkulissen besteht, bevor dann „Flame of Remorse“ die seligen Heldenserials der 30er aufleben lässt – inklusive eigentlich unmöglichem Entrinnen aus allen misslichen Situationen per „Dehnen“ der Zeit, sprich also der üblichen Schummelei bei dem Auflösen von Cliffhangern, die auch schon Annie Wilkes in Stephen Kings „Misery“ leidenschaftlich anprangerte.

Vollends auf die Meta-Ebene hüpfen wir dann in der Episode „A King At Twilight“, in der wir diverse ikonische Momente des archetypischen Monsterspektakels „King Kong“ erleben – wobei sich aus dem Munde Kongs sein Schöpfer Willis O’Brien zu Wort meldet, der seine (durchaus nicht ganz untragische) Lebens- und Schaffensgeschichte in Parallelität zu den Filmszenen (von der legendären, wieder hergestellten „Auskleide“-Szene bis hin zur berühmten geschnittenen Sequenz, in der monströses Viehzeug über unglückselige Forscher herfällt) ausbreitet. In einem 40er-Comedy-Screwball-Setup altert ein frischgebackenes Ehepaar in ihrem neuen Haus rasend schnell – Amityville Horror meets die „Frühstückstisch-Szene“ von Citizen Kane, in der Orson Welles die Entfremdung Kanes von seiner Frau quasi im Zeitraffer einfing.

Ganz tief in die Satirewelle taucht Moore dann in der Episode „The Warner Brothers“ ein, in der die Komikertruppe der Marx Brothers in die Rolle des Warner-Clans schlüpft, in dem sich vor allem Jack Warner als rücksichtsloser Monarch gebärdet, der die ehemalige Familienunternehmung geschickt an sich reißt und zum Hollywood-Mogul wird, wobei die Großproduktion „Gold Diggers of 1935“ zu den „Gaol Dodgers of 1935“ wird, also zu den Knastvermeidern, die durch teure Anwälte so manchen Prozess und Skandal (so etwa die Trunkenheitsfahrt des Choreographen Busby Berkeley und die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Errol Flynn) unter den Tisch kehrten. Mit „After Tombstone“, in dem der sprichwörtliche Fremde im Monument Valley eine Pappmaché-Westernstadt voller Zombies besucht, nimmt Moore sich auch das Western-Genre vor, bei dem er die revisionistische Fiktion, in der das Kino den „Wilden Westen“ im Gefolge der romantisierten Zirkusaufführungen von Buffalo Bill Cody erst erschuf, vollends entlarvt: die Earp-Brüder und Doc Holliday erscheinen da als verbrecherische Gauner, die sich durch stilisierte Berichte selbst zu den Helden machten, die John Ford in „My Darling Clementine“ dann verewigte, was hier in diversen Einstellungen vorlagengetreu nachgestellt wird.

So reist unsere Protagonistin immer weiter durch die Filmgeschichte, die zwar die Form wahrt, den Inhalt aber radikal verändert, dabei stets zwischen Satire und bitterer Realität changiert und sie immer näher an ihre eigene Geschichte bringt, an die sie sich nicht recht erinnern kann – wobei immer das Bewusstsein des Verlassenseins mitwabert und sich das Kino als Gefängnis und Fegefeuer gleichermaßen entpuppt. Dass man über Alan Moores kulturgeschichtliche Kenntnisse und Akribie nur noch staunen kann, überrascht uns nicht: hier greift er ganz bewusst auf sensationalistische Gerüchteküchenwerke wie Kenneth Angers „Hollywood Babylon“ zurück, das vollgefüllt mit Hörensagen-Geschichten übelste Hollywood-Kolportage betreibt, was Moore hier ganz bewusst als „unsichere“ Quellen einsetzt – ebenso wie John Grays „Tombstone’s Violent Years“, ein angeblicher Augenzeugenbericht der Ereignisse um Wyatt Earp, Doc Holliday und die Clanton Bande, der den Mythos des ehrenhaften Marshalls zementierte.

Auf diesen teilweise bewusst provokant-vagen „Böse Zungen sagen“-Berichten entfaltet Moore seine Seelenreise, die Klischees und Mythen der Kinogeschichte demontiert und dabei eine Myriade von Anspielungen und Seitenhieben enthält – quasi jedes Panel quillt über von parodistischen Filmpostern (Bela Lugosi in Count Schmackula, ein neuer Western namens Rio Miserable, der Reigen ist schier endlos), kurzen Gastauftritten berühmt-berüchtigter Figuren und nachgestellter Originalszenen, die jeweils gekonnt mit neuem Inhalt gefüllt und so satirisch aufgeladen werden. Genauso wichtig scheint aber die Reise der Zuschauerin, die aus den Filmen jeweils eine durchgängige Atmosphäre der Traurigkeit, Rücksichtslosigkeit, Selbstsucht und Einsamkeit entnimmt, die sie mehr und mehr auf ihre eigene Situation überträgt und die Grenze zwischen Leinwand und Leben verschwimmt – ein echtes Dantesches Purgatorium eben, wobei wir das Ende nicht vorwegnehmen wollen, sonst könnte man uns ja des Spoilers bezichtigen…

Inszeniert wird das Ganze wie die gesamte Anthologie-Reihe in stimmungsvollem Schwarz-Weiß, das in diesem Band Kevin O’Neill (der schon Moores „League of Extraordinary Gentlemen“ zeichnete) dazu nutzt, den Stil der jeweiligen Filmepoche genauestens nachzuempfinden (vor allem in den King Kong und Tombstone-Abschnitten, aber auch in der Marx-Brothers-Episode sind zahlreiche Filmszenen exakt wiederzufinden). Mindestens ebenso beeindruckend wie die Fülle von Moores Vorlage ist die umfängliche Einrichtung durch Übersetzer Jens R. Nielsen, der nicht nur so manches eigentlich nicht übersetzbare Wortspiel überträgt und erläutert, sondern zu jedem Kapitel einen reichhaltigen Anmerkungs-Fundus liefert, der teilweise länger als die eigentliche Episode ist, aber stets faszinierend, kenntnisreich und erhellend daherkommt. Und dass der rührige Josch in seinem Dantes Verlag eine an die Göttliche Komödie gemahnende Reihe als hochwertiges Hardcover bringt, ist nicht nur lobenswert, sondern auch irgendwie folgerichtig. (hb)

Cinema Purgatorio
Text: Alan Moore
Bilder: Kevin O‘Neill
256 Seiten in Schwarz-Weiß, Hardcover
Dantes Verlag
30 Euro

ISBN: 978-3-946952-55-8

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