Die Bestie, Band 1 (Carlsen)

Juli 8, 2021
Marsupilami: Die Bestie, Teil 1 (Carlsen Verlag)

Antwerpen, in einer schwarzen, unheilvollen Gewitternacht, irgendwann im Jahre 1955. Auf einem Seelenverkäufer gelangt eine Ladung exotischer Tiere aus Südamerika ins Land. Oder was davon übrig ist. Denn etliche sind auf dem Transport unter widrigen Bedingungen verendet. Eines der wenigen überlebenden Tiere ist ein undefinierbares, bestenfalls affenähnliches Geschöpf mit einem unglaublich langen Schwanz, das sogleich „Rache“ an dem Kapitän übt und von dem stinkenden Kahn ins Ungewisse flieht.

Szenenwechsel: François van den Bosche ist ein aufgeweckter Junge, dessen Lehrer, Herr Boniface, ein Auge auf seine Mutter geworfen hat. Die hat es, genau wie François, nicht leicht – stammt ihr Sohn doch aus einer unehelichen Verbindung mit einem deutschen Soldaten, der sie bald danach wieder verließ. François wird daher von seinen Mitschülern gehänselt und verspottet (der Name van den Bosche trägt nicht wenig dazu bei – „Boche“ ist ein Schimpfname für die Deutschen). Vielleicht hat François deshalb ein großes Herz für Tiere. Zum Leidwesen seiner Mutter bringt er ständig irgendein Viech, das aufgepäppelt wird und in seinem Zimmer eine neue Heimat findet. Und eines Tages stößt er auf ein übelriechendes, halb totes, seltsames Tier mit einem extrem langen Schwanz…

Autor Zidrou (u.a. „SHI“, „Die neuen Fälle von Rick Master“) und Zeichner Frank Pé (u.a. „Jonas Valentin“, „Zoo“) wagen hier eine neue Sicht auf Altbekanntes. Kein weiterer Spirou-Ableger oder Spezial-Ausgabe, auch keine Hommage – der Band sieht sich vielmehr als Neuerzählung mit realistischem Anspruch, frei nach dem Motto „so ist es wirklich geschehen“, so kam das Marsupilami nach Europa. Wobei Frank Pé zeichnerisch dem von André Franquin begründeten Stil teilweise treu bleibt, zumindest was die Darstellung der Personen betrifft. Tatsächlich ist der Band an vielen Stellen ausgesprochen finster und richtet sich damit an eine ältere Leserschaft. Schon die Eingangs-Sequenz mit dem übergroß gezeichneten Frachter erinnert eher an einen Horrorfilm, in dieser finsteren Szenerie, ganz in dunklen Tönen gehalten. Fast wie ein Geisterschiff mit einem Monster an Bord. Bis ein vertrautes „Huba“ ertönt, was aber in diesem Zusammenhang nicht unbedingt anheimelnd erscheint. Kommt hier tatsächlich etwas Böses ins Land?

Nicht zu zähmen: das Marsupilami

Ein wildes Tier in einer ihm völlig fremden Umgebung. Da bedarf es eines Jungen, der wegen seiner Herkunft von seinen Mitschülern massiv gemobbt wird und der daher den Umgang mit Tieren bevorzugt. Er sieht das Marsupilami als das was es ist: ein leidendes Wesen, hungrig, umgeben vom Unbekannten. So kommen beide, Verbündete im Geiste, miteinander zurecht: François behandelt das Tier mit Würde, was ihm von „Gelbschwanz“, wie er es nennt, gedankt wird. Die Mutter, auch sie eine sympathische Außenseiterin, kommt als Muschelverkäuferin gerade so über die Runden und duldet den Minizoo im Haus – und die Avancen des Lehrers, der unverkennbar die Züge von André Franquin trägt (auch Yvan Delporte als Vogelbesitzer und Jijé als Direktor sind dabei). Und der ebenfalls in seiner Schule ob seiner unkonventionellen Lehrmethoden und fehlender Strenge nicht unumstritten ist.

Frank Pé ist einmal mehr in seinem Element: er kann Tiere in Hülle und Fülle zeichnen. Nicht nur das Marsupilami in einer wilden, durchaus gefährlichen Form. Die kuriose, von François versammelte Tier-Riege, reicht von einer tagaktiven Fledermaus bis zu einem alkoholabhängigen alten Klepper. Sorgt das Viehzeug damit für Humor, ist das grimmige Marsupilami zumindeste bis zu seiner Entdeckung für die düsteren Passagen zuständig, allein, im Regen und in der Nacht. Dann, nachdem der Junge das Tier aufgelesen hat und es ihm ans Herz gewachsen ist, entwickelt sich die Story zu einem Drama, tragisch und durchaus actionbetont – nicht unbedingt überraschend, aber dennoch fesselnd geschrieben und mit Sinn für traditionelle Details inszeniert. Fortsetzung folgt.

Das fast quadratische Format und der Umfang des Bandes erlauben es Frank Pé, breite Panels anzulegen; er kann so Szenen und Passagen über mehrere Seiten in großformatigen Bildern schildern, wortlos und hoch atmosphärisch. Auch damit schafft er es, den bekannten und prägenden Stil der École Marcinelle in realistisch gezeichnete Bilder zu transportieren. Im Gegensatz zur ersten Spirou-Zusammenarbeit von Autor Zidrou und Frank Pé („Das Licht von Borneo“ in Spirou Spezial, Band 23) kommt „Die Bestie“ unkonventioneller daher, was an der aufwändigen und stimmigen Farbgestaltung liegt, die – weniger bunt – viel mehr Abstufungen damit mehr Konturen aufweist, was Figuren und Tieren, und damit der kompletten Szenerie, wesentlich mehr Plastizität und Realismus verleiht. Was wunderbar passt. (bw)

Marsupilami: Die Bestie, Teil 1
Text: Zidrou
Bilder: Frank Pé
156 Seiten in Farbe, Hardcover
Carlsen Verlag
25 Euro

ISBN: 978-3-551-78510-7

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