Daredevil. Teufelskerl. So muss sich der kleine Matt Murdock verhöhnen lassen auf dem Schulhof, wenn ihn die Mitschüler drangsalieren und auslachen. Denn er darf sich nicht wehren. Sein Vater, der Boxer Battlin‘ Jack Murdock, genannt ‚The Devil‘, hat es ihm verboten. Denn Jack will, dass sein Sohn nicht den gleichen Fehler macht wie er: auf seine Fäuste zu setzen anstelle den Verstand. Einst ein gefeierter Star im Ring, muss sich Jack nun mit zwielichtigen Jobs durchschlagen, treibt Schutzgelder für die Mafia ein – und fühlt sich als Versager, der wenigstens seinen Sohn auf die rechte Bahn bringen will. Matt gehorcht scheinbar, klemmt sich am Tag hinter seine Bücher, aber im Stillen trainiert er in der Turnhalle, in der sein Vater seine Karriere begann. Bis zum schicksalhaften Tag, der sein Leben für immer verändert: er rettet einen gebrechlichen Mann vor einem heranrasenden Laster mit Chemikalien, die sich über den Jungen ergießen. Die furchtbare Diagnose: er ist blind.
Vollkommen niedergeschmettert übergibt sich Matt dem Selbstmitleid, als ihn ein geheimnisvoller Fremder unter seine Fittiche nimmt. Diese mysteriöse Figur namens Stick bringt ihm bei, dass Matts andere Sinne durch den radioaktiven Abfall gesteigert wurden, er kann hören, fühlen, riechen und schmecken wie kein Sehender – und er lernt, in seiner Welt zurechtzukommen und sie zu meistern, tanzend auf Stromleitungen und Hausdächern. Als sein von Gewissensbissen geplagter Vater sich gegen seine Auftraggeber erhebt und sich weigert, im Dienste von Wettschiebereien einen letzten großen Kampf absichtlich zu verlieren, bringen ihn die Mafiosi grausam um. Und Matt rächt sich an jedem einzelnen, gewalttätig und blutig, wobei auch eine unschuldige Prostituierte ums Leben kommt. Enttäuscht wendet sich Stick ab, er hat sich in seinem offenbar unkontrollierbaren Schüler getäuscht.
An der Columbia-Universität studiert Matt ein Jahr später Jura, sein Zimmergenosse Foggie Nelson sieht sich den gleichen Repressalien ausgesetzt wie einst Matt, der diese mit drastischen Mitteln abstellt. Das erweckt die Neugierde der mysteriösen, schönen Elektra, Tochter eines griechischen Großindustriellen, höchst athletische, gewalttätige Kämpferin, die von inneren Stimmen angetrieben wird – und bald Matts Geliebte, der in ihr seine wahre Seelenverwandte sieht. Als ihr Vater ermordet wird, kehrt Elektra nach Hause zurück, und der stets im Hintergrund beobachtende Stick muss attestieren, dass nun auch die letzte Hoffnung verloren sei. Matt beginnt in Boston in einer renommierten Anwaltskanzlei seine Karriere, während in New York ein neuer Herrscher der Unterwelt auftritt – der Kingpin regiert mit eiserner Hand und verdient mit Geschäften, vor denen bislang sogar die Mafiosi zurückschreckten: Crack, Kinderpornographie und mehr. Matt, der für einen Auftrag zurück nach New York geschickt wird und nach wie vor zu Gewaltausbrüchen gegen Typen neigt, die ihn an die Peiniger seine Jugend erinnern, freundet sich in der verlassenen Sporthalle mit dem Mädchen Mickey an, in dem er sich selbst erkennt. Als Mickey von den Handlangern des Kingpin entführt wird, entfesselt Matt einen erbarmungslosen Krieg gegen den Gangsterboss, der feststellen muss, dass ein neuer Widersacher die Regeln des Spiels gerade ändert…
Als Frank Miller 1993 wieder einmal zu der Figur zurückkehrte, die er Anfang der 80er Jahre in einem brillanten Run im Handstreich vom ehemaligen Zweit-Story-Seitenfüller zu einem der komplexesten Charaktere im gesamten Marvel-Universum machte, gelang ihm erneut eine faszinierende Neuinterpretation der Figur, die er maßgeblich mit geformt hatte. Dafür begab er sich keinesfalls in irgendwelche apokalyptischen Abschieds-Szenarien, sondern ganz im Gegenteil ganz an den Anfang der Geschichte, die Stan Lee 1964 erstmals erzählte: der kleine, eingeschüchterte Junge, der durch einen Unfall erblindet und dessen andere Sinne im Gegenzug ins Übermenschliche wachsen, ist eine der klassischen Origin-Stories, die bei Miller wie schon bei Batman: Year One mit psychologischer Tiefe versehen und mit zusätzlichen Facetten angereichert wird. Matt erscheint als Getriebener, der von seinen inneren Teufeln in Form der Erinnerung an die Kollateraltoten seines Rachefeldzugs verfolgt wird – seine Gewaltausbrüche hat er nicht im Griff, bis er sie schließlich in der Rettung der kleinen Mickey kanalisieren kann.
War es es bei der nicht minder brillanten Storyline „Born Again“ der Hochmut, von dem Matt nur durch den Gang durchs Fegefeuer geläutert werden konnte, muss er hier lernen, seine Wut und seine Selbstverachtung durch den Kampf für Bedrohte zu nutzen – was er gegen Ende annimmt und seine Gegner auffordert, ihn Daredevil zu nennen. Neben dieser psychologisierenden Herleitung des Heldendaseins, das die bekannten Stationen in kurzen Episoden abhandelt, baut Miller Figuren ein, die er selbst erst später in die offizielle Daredevil-Mythologie einführte: Elektra wird Matt Jahre später als Ninja-Kämpferin für die Organisation The Hand gegenüberstehen, sich erneut in ihn verlieben und von der Hand Bullseyes tödlich verletzt in seinen Armen sterben, ebenso wie wir Stick als seinen geheimnisvollen Mentor kennenlernen – all dies in den legendären Miller-Ausgaben der frühen 80er. Sprachlich im Miller-typischen inneren Monolog in nahezu lyrischem Ton gehalten, erleben wir so eine komplexe, spannende und faszinierende Neudeutung von Daredevils Herkunft, die in den teilweise heftigen Gewaltorgien und Selbstjustiz-Anklängen (nicht zuletzt in Elektras Attacken gegen kleine Ganoven) – allerdings noch inhaltlich integriert, wie im zeitgleich entstandenen Epos „Sin City“ – eine erste Ahnung von der abgründigen Gesinnung entdecken lässt, in der sich Miller spätestens mit „Holy Terror“ vollständig verloren hat.
Hier erscheint Matt auch optisch noch ganz am Anfang, bei seinem Angriff auf das Lager des Kingpin tritt er noch nicht in Kostüm, sondern nur vermummt auf, wovon sich die Macher der nach wie vor durchaus erfolgreichen TV-Serie Daredevil (Staffel 2 startet demnächst) offenkundig inspirieren ließen. Überhaupt ist die optische Gestaltung durch John Romita jr. ein ganz eigener Leckerbissen: wie schon in seiner Arbeit für Spider-Man, Thor und später Kick-Ass, überzeugt Romita jr. durch seinen individuellen, leicht kantigen Stil, atmosphärisch, schnell, mit filmischem Charakter, teilweise symbolisch, immer mitreißend (auch wenn Elektra in Kleidung und Frisur optisch eindeutig ein Kind der frühen 90er ist). Die vorliegende Ausgabe, die nicht zuletzt für Fans der TV-Serie spannend sein dürfte, kommt mit einem Anhang, in dem man Skizzen von Titelillustrationen und nicht verwendete Seiten bewundern kann. Absolut essentiell. Neben der Softcover-Ausgabe legt Panini für Sammlerherzen eine auf nur 222 Stück limitierte Hardcover-Variante vor, die für 25 € zu haben ist. (hb)
Daredevil: Der Mann ohne Furcht
Text: Frank Miller
Bilder: John Romita jr., Al Williamson
180 Seiten in Farbe
Panini Comics
16,99 Euro
ISBN: 978-3-95798-401-2