Mister Hyde vs. Frankenstein (Splitter)

Januar 19, 2016

Mister Hyde vs. Frankenstein (Splitter)

Faustine Clerval ist Haushälterin. Das ist im spätviktorianischen London nichts Besonderes. Spannend wird die Sache aber dadurch, dass sie zum einen vor Jahren als Krankenschwester einen gewissen John Merrick auf dessen eigenes Bitten hin von seinen Leiden erlöst hat. Und zum anderen arbeitet sie mittlerweile im Haushalt eines ebenso illustren Herrn – niemand anders als Dr. Henry Jekyll, der für seine absurden Theorien von der Dualität des Charakters von der Londoner Wissenschaft verhöhnt und geächtet wurde. Aber Jekyll lässt sich dadurch nicht aufhalten, sondern treibt seine Forschungen weiter als jemals zuvor. Durch fortlaufende Selbstexperimente zu einem beachtlichen Kraftpaket herangewachsen, ist er von den Wirkungen seiner Droge körperlich und auch geistig gezeichnet, geplagt von Wahnvorstellungen und dem „Anderen“, den er immer weniger kontrollieren kann. Da kommt es ihm gerade recht, dass das Institut Walton, das ihn mit mysteriösen Substanzen beliefert, aufgrund eines Stromausfalls von der Außenwelt abgeschnitten ist. Flugs macht er sich mit Faustine im Gefolge auf den Weg in die Schweiz, um vor Ort nach Nachschub sicherzustellen.

Dort allerdings machen die beiden einen grausigen Fund: das Institut ist verwüstet, die Belegschaft buchstäblich zerfetzt – der letzte Überlebende kann ihnen gerade noch mitteilen, dass die Legenden um den hier umherschweifenden Oger wohl wahr sind, als eben diese Kreatur angreift. Dabei handelt es sich um nichts anderes als das Geschöpf des seligen Victor Frankenstein, das sich der Polarforscher Robert Walton klug unter den Nagel gerissen hat, um es einzufrieren, aus seiner Körperbeschaffenheit allerlei Ingredienzien zu gewinnen und dann an finstere Kanäle wie Dr. Jekyll zu verkaufen. Dank Stromausfall aufgetaut, pflügt sich das Wesen seine blutige Bahn, während Jekyll und Faustine nur knapp entkommen. In Wien begibt sich Jekyll – der mittlerweile weiß, das Faustine ein Nachfahre von Henri Clerval ist, dem engsten Vertrauten von Victor Frankenstein und einem der ersten Opfer des Geschöpfs – in Behandlung beim angesagten Psychologen Siegmund Freud, dem er seine Pläne offenbart: wenn er dem künstlichen Wesen sein Serum injiziert oder gar das Blut des Wesens für seine eigenen Experimente benutzt, dann, ja dann wären seine Forschungen endlich gekrönt. In einem Safe, in dem das Vermögen des Instituts Walton verwahrt wird, findet Jekyll tatsächlich einen abgetrennten Arm des Geschöpfs, mit Hilfe dessen es ihm gelingt, die Kreatur zu sich zu locken. Das lässt sich allerdings nur kurz bändigen und geht wieder auf Zerstörungstour, worauf sich Jekyll und Faustine auf die entlegenen Orkney Inseln begeben, wo Frankensteins letzte Wirkungsstätte und somit auch sein letztes Geheimnis zu finden sein soll…

Autor Dobbs gelang schon in ‚Scotland Yard‘ ein faszinierendes Wechselspiel der fiktiven Welten, indem Bram Stoker die „realen“ Geschehnissen in London nur leicht kaschiert in seinen weltberühmten Roman um den transsilvanischen Blutsauger umwandelt. Auch hier verschmilzt Dobbs wieder Fakt und Fiktion: vor dem sehr realen Hintergrund des viktorianischen London, in dem – wieder einmal, fast schon ein Dauergast – der „Elefantenmensch“ John Merrick als Verortung dient, entfaltet er das spannende Gedankenspiel, was geschehen würde, wenn ein besessener Forscher (Jekyll) die Ergebnisse eines ebenso obsessiven Vorgängers (Frankenstein) in die Finger bekommt. Eine Versuchsanordnung, auf die zwar nicht einmal die Universal-Monster-Serien-Schaffer verfielen (wobei ‚Frankenstein meets Mr Hyde‘ massiv zugkräftig gewesen wäre, keine Frage), die aber durchaus inhaltlich naheliegt. Schließlich leben beide für die Idee, künstlich eine Existenz hervorzubringen, der eine in Prometheus-Rolle in Konkurrenz zum allmächtigen Schöpfer, der andere als Schizophrenie-Inkarnation, bevor Freud dieses Krankheitsbild salonfähig machte.

Im Gegensatz zu Stevensons Erzählung, in der Jekyll von echtem Forscherdrang beseelt und von seinem Wesen Hyde (nicht zuletzt als Kritik bigotter Doppelmoral) letztlich übermannt wird, gebärdet sich Jekyll bei Dobbs in menschenverachtenden Allmachtsphantasien, die zunehmend auch seine bürgerliche Persona überschwemmen und durch seine fortschreitende Deformation auch nach außen treten. Faustine, die von John Merrick erfährt, was das Institut Walton alles treibt, begibt sich ganz bewusst in die Dienste von Jekyll, da sie hofft, auf diesem Weg das Vermächtnis ihres Urahns antreten zu können, was eine weitere geschickte Vermengung der beiden fiktiven Erzählwelten bietet. Auch streut Dobbs weitere literarische Querverweise ein, etwa in Flashbacks in die Erlebnisse des Victor Frankenstein oder in einer Szene, als Jekyll sich in Genf als Vermögensverwalter für die Familie Walton ausgibt und dafür den Namen Renfield benutzt (was dann allerdings explizit aufgelöst wird und die Entdeckungsfreude so etwas schmälert).

Den entscheidenden Twist der Vorlage bewerkstelligt Dobbs durch einen klugen Kniff: anders als die literarische Figur Walton, der sich im ewigen Eis eingeschlossen vom Schicksal Frankensteins, der ihm sterbend seine Geschichte erzählt, gemahnt fühlt und seine ebenso vermessene Expedition abbricht, wittert der Polarforscher bei Dobbs seine Chance, tötet Frankenstein und schnappt sich das Monster für seine eigenen Zwecke. Der aufgetaute Eisblock im Institut scheint direkt aus der ersten „Ding aus einer anderen Welt“-Filmversion entsprungen, ebenso wie ein Zusammentreffen der Kreatur mit einem kleinen Mädchen am See ein klares Zitat aus der klassischen Frankenstein-Verfilmung mit Boris Karloff bringt. Selbst die oft zu beklagende Namensvermengung wird geklärt – auf die Frage, wie man es denn nennen solle, antwortet das Geschöpf: Frankenstein, wie seinen Vater. So entsteht eine furiose Mischung aus literarischen Stoffen, historischen Hintergründen und psychologischen Abgründen, die eine faszinierende neue Facette in der stetig wachsenden viktorianischen Erzählwelt um Sherlock Holmes, Dracula, Jack the Ripper sowie Jekyll und Hyde liefert – auch wenn gegen Ende ein wenig die kreative Energie ausgeht und der Kampf der Giganten fast wirkt, als wenn der Hulk auf Abomination losgeht. Der vorliegende Splitter-Double-Band kombiniert die Originalausgaben „La derniére nuit de dieu“ und „La chute de la maison Jekyll“ und kredenzt somit einen abgeschlossenen Lese-Genuss. (hb)

Mister Hyde vs. Frankenstein
Text: Dobbs
Bilder: Antonio Marinetti
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-277-9

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