Die Abenteuer von John Blake (Carlsen)

Juli 18, 2017

Glück im Unglück: die junge Serena Henderson wird mitsamt Familie von ihrem dumpfbackigen Vater auf eine Weltumseglung mitgenommen – und nachdem Papa Henderson reichlich unerfahren ist, geht das natürlich schief: das Boot gerät in einen Sturm, in dem Serena über Bord geht. Aber kurz vorher kommt wie aus dem Nichts ein geheimnisvoller Nebel auf, in dem sich ein Segelschiff verbirgt, dessen Besatzung beherzt eingreift und Serena aus dem Wasser fischt. Also alles in Butter? Kaum, denn ihr Retter, der junge John Blake, eröffnet der staunenden Serena, dass die „Mary Alice“ keinesfalls ein normales Gefährt ist. Vielmehr bewegt sich das Schiff sprunghaft durch Zeit und Raum – mitsamt einer bunt aus aller Herren Länder und Epochen zusammengewürfelten Besatzung. Unter dem Kommando von Kapitän Quayle tun dabei so illustre Gestalten wie der Engländer Dick Merrifield (den die „Mary Alice“ aus der Hand von Barbaresken-Sklavenjägern rettete), der „alte“ Römer Marcus Tullius Pallas (ex-Soldat in der römischen Armee und begnadeter Ingenieur, der als einziger den Dieselmotor so richtig versteht) oder der Chinese Sammy Wu (Sohn einer reichen Kaufmannsfamilie, dessen Dschunke Schiffbruch erlitt) Dienst.

Serena findet langsam aber sicher heraus, dass John die Zeit- und Ortssprünge mit seiner Uhr zumindest teilweise kontrollieren kann und offenbar versucht, zu einem bestimmten Tag zurückzuspringen, an dem die „Mary Alice“ zum Vagabunden in Zeit und Raum wurde. Genauer gesagt ins Jahr 1929, als sein Vater die berühmte Einstein-Carmichael-Expedition begleitete und dabei ein verhängnisvolles Experiment durchführte, bei dem per Gravitationsenergie eine Zeitverzerrung entstehen sollte. Dieses Vorhaben war von Erfolg gekrönt, aber die entstehende Schockwelle warf den kleinen John hinaus aufs Meer, wo er gemeinsam mit der „Mary Alice“ in den Zeitstrom geriet und verschwand. Die erratischen Sichtungen dieser geisterhaften Reisenden erwecken in der Gegenwart auch das gesteigerte Interesse des High-Tech-Unternehmers Carlos Dahlberg, der mit seinem Betriebssystem und seinem mobilen Kommunikationsgerät, genannt Apparator, ein Wunderwerk der sozialen Vernetzung geschaffen hat.

Mit der neuesten Version will sich Dahlberg endgültig zur Beherrschung aller Kommunikationskanäle aufschwingen, was ihm doch ein wenig zu Kopf steigt: aus dunklen Kanälen beschafft er sich Atomwaffen, mit denen er nebenbei noch die Welt regieren will, wobei ihm das Geisterschiff irgendwie im Wege zu stehen scheint. Bei seiner Hatz auf die „Mary Alice“ kommt ihm allerdings der Navy-Offizier Roger Blake (Zufall?) auf die Spur, der seinerseits an dem Segler interessiert ist und dem Professor Holt, der ebenfalls an Einsteins Expedition fuhr, einen kleinen Teil der Gravitationsmaschine übergibt, die das ganze Unheil verursachte. Gemeinsam mit der Journalistin Danielle Quayle Reid macht sich Roger auf in Richtung Fidschi-Inseln, wo alsbald tatsächlich die „Mary Alice“ auftaucht und Serena mit ihren Eltern wieder vereint. Aber die junge Dame denkt gar nicht daran, ihre Retter so einfach gehen zu lassen: immerhin möchte sie das ganze Geheimnis erfahren, das die Besatzung, den jungen John und den verbrecherischen Dahlberg verbindet…

Der englische Humanist, Literaturwissenschaftler und Romanautor Philip Pullman breitet in seiner ersten Graphic Novel ein wunderbares Kaleidoskop aus literarischen Motiven aus: die offenkundig auf Fortsetzung angelegten Abenteuer des John Blake hetzen atemlos durch exotische Schauplätze, in denen die Protagonisten tausend Gefahren bestehen müssen, ganz wie wir das von Tintin und seinen franko-belgischen Kollegen bestens kennen. Das vom Nebel umwaberte, unheilsdräuende Geisterschiff zog schon in John Carpenters Horrormär „The Fog“ die Nachkommen diverser Übeltäter zur Rechenschaft, und der Marineoffizier Blake trägt nicht umsonst den Vornamen eines britischen Schauspielers, der wiederholt einen Superspion ihrer Majestät mimte. Aber auch aus seinem eigenen literarischen Fundus bedient sich Pullman: in Teil 2 seiner berühmten Trilogie „His Dark Materials“ (bekannt nicht zuletzt durch die Verfilmung von Teil 1, „Der goldene Kompass“) versucht der jugendliche Held Will seinen Vater, einen Polarforscher, zu retten und findet heraus, dass ein magisches Messer die Verbindung zwischen den Dimensionen herstellen kann – genau wie Johns Uhr den Schlüssel zu den Zeitsprüngen der „Mary Alice“ liefert.

Johns Name indessen dürfte (neben einer kleinen Hommage an „Blake und Mortimer“) als Referenz auf den englischen Romantiker William Blake zu verstehen sein, Pullmans große Inspiration, mit der er die Begeisterung für John Miltons Epos „Paradise Lost“ teilt – in Blakes ausladender, vom Humanismus geprägter Mystik, ausgebreitet in Sammlungen wie „Songs Of Innocence“ und „Songs Of Experience“, erscheinen transzendentale Visionen anderer Zeiten und Welten, wie sie auch den Figuren in Pullmans Werken mit den richtigen Werkzeugen offen stehen. In einer wunderbar lyrischen Szene gleitet die „Mary Alice“ gleichsam zwischen den Dimensionen: Serena hört nahezu gleichzeitig eine Seeschlange, die Gesänge der Sirenen Homers und eine Piratenattacke – das Schiff als Wanderer zwischen Zeit und Raum in einem Moment, der auch aus Blakes „Urizen“ oder „Jerusalem“ stammen könnte. Dabei schlägt Pullman allerdings leichtfüßig den Bogen in die höchst aktuelle Gegenwart: Dahlberg und sein Imperium stellen eine kaum kaschierte Abrechnung mit dem Apple-Konzern dar, der mit seiner Armee von i-Geräten die kommunikative Herrschaft nahezu vollständig übernommen hat – wobei sogar die Konkurrenz und auch der Urherber-Klau zwischen Apple und Erzrivalen Microsoft (die sich im Übrigen beide fürstlich bei Xerox bedienten) zum zentralen Handlungsmotiv avanciert.

Obwohl die Geschichte zuerst als Serie im englischen Comic-Magazin Phoenix erschien, wirkt der Fortgang dabei stets nahtlos und flott, mit raschen Schauplatzwechseln und einem feurigen Finale, das einem Bond-Abenteuer bestens zu Gesicht stehen würde. Fred Fordham (der von Marjane Satrapis „Persepolis“ zum Comiczeichnen inspiriert wurde) lehnt sich bei seiner zeichnerischen Inszenierung an die gleiche Schule an, die auch inhaltlich Pate steht, in leichten Anklängen die Ligne Claire, in der wir Tintin und Kollegen verfolgen dürfen. Gleichzeitig erzeugt der ehemalige Portraitmaler Fordham immer wieder kunstvolle Ansichten sowie feine, atmosphärische Inszenierungen, so zum Beispiel gleich zu Anfang, als wir wie in einem klassischen Establishing Shot zutiefst filmisch aus einer Totalen immer näher an ein Schiff und schließlich eine Person hineinzoomen. Insgesamt also ein wunderbarer Auftakt, der in seinem set up (Zeitreisen, ein junger Held, jede Menge Nebenfiguren, die allesamt ihre eigene Geschichte zu bieten haben) ausreichend Stoff für viele weitere Episoden bergen sollte. (hb)

Die Abenteuer von John Blake: Das Geheimnis des Geisterschiffs
Text: Philip Pullman
Bilder: Fred Fordham
160 Seiten in Farbe, Hardcover
Carlsen Verlag
19,99 Euro

ISBN: 978-3-551-73425-9

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