Weisse Felder (Splitter)

Oktober 8, 2015

Weisse Felder (Splitter)

Schreibblockade! Dieses Schreckgespenst kennt jeder, der schon einmal einen Aufsatz, eine wissenschaftliche Arbeit oder gar ein künstlerisches Werk (z.B. eine Comic-Besprechung…) zu Papier bringen wollte. Das Blatt schaut einen einfach an, es fällt einem nichts ein, und so gähnt da, wo doch eigentlich die Worte sprudeln sollten, eben nur ein weißes Feld. Dass das einem Comic-Zeichner genauso passieren kann, gerade einem erfolgsverwöhnten, das muss der gefeierte Vincent Marbier leidvoll erfahren: nach zahlreichen Flops hat er mit ‚Die Pfade der Schatten‘ nach Jahren endlich einen veritablen Hit gelandet, der nicht nur bei Kritikern hochgelobt wurde, sondern auch scharenweise Leser gefunden hat und somit Verlag und Autor ordentlich Geld in die Kasse spült. Das ist auch dringend nötig, denn außer Marbier hat sein Verlagshaus Éditions Rivages kein Zugpferd, und so warten nicht nur Fans, sondern auch seine Auftraggeber und sein Texter Olivier Moral sehnlich auf Band 2.

Das Problem: Vincent hat nichts. Keine Inspiration, keinen Einfall, keine Muße. Und vor allem keine einzige neue Seite für seine Serie. Er lebt zurückgezogen, kümmert sich um einen Sohn, dessen Sorgerecht er sich mit seiner geschiedenen Frau teilt, joggt durch die Felder und sucht nach frischer Motivation, die er aber partout nicht findet. Auf Drängen seines Verlegers kommt er zu einer Vernissage seiner Originale nach Paris und verspricht, die ersten Seiten des neuen Werks mitzubringen – nur um dann zu behaupten, er habe sie im Zug verloren. Auf dem Comic-Festival von Saint-Malo bebt die Comicszene mit der öffentlichen Suche nach den angeblich verlorenen Seiten, die es nie gab, während Vincent sich immer mehr von allen Seiten unter Druck fühlt. Autor und Verleger, denen das finanzielle Wasser bis zum Hals steht, bereiten hinter den Kulissen längst seine Ablösung durch einen jungen Zeichenknecht vor, als Vincent durch eine Katastrophe drastisch erkennen muss, was ihm gefehlt hat. Vor dem Hintergrund einer menschlichen Tragödie, aus der er selbst nur knapp entkommt, wird ihm klar: nicht Monster, Ritter und Fabelwesen, sondern das zwischenmenschliche, existentielle Element interessiert ihn – und verleiht ihm auch wieder Kraft und Mut, seine Kunst neu zu erleben…

Der Roman über den Autor, das Bild über den Maler, dieser Topos ist in der Kunst altbewährt, von James Joyces ‚Portrait of the Artist as a Young Man‘ über van Goghs Selbstbildnisse. Selbstreflexion und Nachdenken über das eigene Medium begegnen im Comic häufig auf der Meta-Ebene, als ironische Brechung oder Zerstörung der Illusion (ernsthaft z.B. in ‚Opus‘ von Satoshi Kon, satirisch in ungefähr jedem Deadpool-Band), eine direkte Beleuchtung des Künstler-Dilemmas zwischen künstlerischem Anspruch und kommerziellem Druck war bislang selten. Sylvain Runberg (u.a. ‚Konungar‘, ‚Reconquista‘ und ‚Orbital‘, alle ebenfalls bei Splitter) gelingt in ‚Weiße Felder‘ das Kunststück, die inneren Konflikte des vom eigenen Erfolg verfolgten Zeichners erlebbar zu machen, ohne in verkopfte Selbstspiegelung abzugleiten. Bewusst konfrontiert er den nach Orientierung suchenden Vincent, der Band 1 in der Extremsituation der Scheidung annahm und im Bewusstsein lieferte, die geplante Serie würde über den Anfang ohnehin nie hinauskommen, mit den rein wirtschaftlich orientierten Verlegern, die (verständlicherweise) die Zukunft des Unternehmens im Sinne haben – und deren kommerzielles Interesse vom unverhohlenen Opportunismus des Autors Olivier noch übertroffen wird, der als erster die Absetzung Vincents aktiv betreibt.

Besonders gefällt dabei die geschickte Verortung des Geschehens in der real existierenden französischen Comic-Szene: da besucht Vincent das berühmte Festival von Saint-Malo und trifft vor Ort nicht nur illustre Kollegen wie Emanuel Lepage, der gerade an seinem neuesten Wurf ‚Weiß wie der Mond‘ arbeitet, sondern sogar seinen ‚eigenen‘ realen Zeichner Olivier Martin. Die Verleger versuchen sich die besten Talente wie etwa Jean-David Morvan (‚Herkules‘ bei Splitter; ‚Spirou‘ & ‚Sillage‘ im Carlsen Verlag) abzujagen, und Vincent muss sich bezeichnenderweise ausgerechnet vom Preisträger Jed schmähen lassen. So entsteht ein lebendiges Bild einer Szene, die weitab vom künstlerischen Idealismus den Spagat zwischen Anspruch und kommerziellem Erfolg immer schwieriger absolviert, in der Erfolgsmuster in Endlosfortsetzungen ewig variiert werden und auch fragwürdige Gesellen unterwegs sind. Erst als eine Naturkatastrophe den Blick auf das Wesentlich lenkt, findet Vincent zu sich selbst zurück und wendet sich vom Erwartungsdruck, der auf ihm lastet, ab.

In einem fiktiven Interview am Ende des Bandes kristallisieren sich die unterschiedlichen Pole nochmals sehr deutlich heraus: Vincent bleibt fast stumm, fühlt sich bedrängt, wohingegen der plappernde Moral vorgefertigte Phrasen über die tolle Zusammenarbeit und seine thematische Bandbreite (Fantasy, Abenteuer, was halt geht) abspult. Während Moral eine Zusammenarbeit mit Jed zu einem erotischen Comic ankündigt – Kassenschlager ahoi! –, weist Vincent auf den immer kleiner werdenden Freiraum des Künstlers vor dem Hintergrund der Kommerzialisierung und des Verdrängungswettbewerbs in der Branche hin. Olivier Martin inszeniert diese stille, eindrucksvolle Geschichte in bestechend schlichten Bleistift-/Tusche-Zeichnungen, deren stilvoll-monochrome Gestaltung nur in den Szenen der Katastrophe in Form einer Überschwemmung Farbtupfer aufweisen. Dies fügt sich harmonisch ins Gesamtbild einer Erzählung, die wie ihre Hauptfigur bewusst gegen den Strom von krachigen, explosiven Abenteuern innehält, den Blick nach innen richtet und vollkommen ohne Eitelkeit oder Selbstverliebtheit einen Einblick nicht nur ins Wesen der Comic-Branche, sondern in die Seele eines Künstlers gewährt. Ganz groß! (hb)

Weisse Felder
Text: Sylvain Runberg
Bilder: Olivier Martin
88 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
17,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-144-4

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