Familie ist im günstigsten Fall ein Segen, oft aber anstrengend und manchmal auch ein Fluch. Als Carol Danvers, alias Captain Marvel, nach einem Ausraster bei den Avengers ihre Heimat Harpwell Sound irgendwo an der Ostküste der USA besucht, wird sie von Erinnerungen an ihren verstorbenen Vater geplagt. Keine guten, denn ihr alter Herr war ein Trinker, ein schroffer Mensch, der sich auch gerne in ihr Leben einmischte. Entsprechend schlecht war ihr Verhältnis zu ihm, entsprechend düster die Erinnerungen. Jetzt leben in ihrem Elternhaus noch ihre Mutter und ihr Bruder Joe. Auch hier tun sich bei der erneuten Begegnung alte Wunden auf. Direkt nach einem Streit verunglückt Joe schwer – vollständige Genesung ungewiss – worauf Carol ihr Superheldendasein vorerst auf Eis legt. Dann entdeckt sie auch noch zufällig Liebesbriefe ihres Vaters an eine Unbekannte, was ihre Gefühlswelt völlig aus den Fugen wirft. Soll sie ihrer Mutter davon berichten? Als eine durchaus feindlich gesinnte Besucherin vom Kree-Planeten Hala auftaucht, wird ihr diese Entscheidung abgenommen und Carol erlebt eine faustdicke Überraschung…
Der Einzelband, der die komplette Miniserie „The Life of Captain Marvel“ beinhaltet, gewährt dem Leser zuerst private Einblicke in die Familiengeschichte der mächtigsten Heldin der Erde. Und das in der ersten Hälfte ganz ohne Superhelden-Tamtam. Carol weiß, sie muss ihre Vergangenheit aufarbeiten, ihre Kindheit und diverse verpasste Gelegenheiten. Was sich angesichts gegenseitiger verkrusteter Beziehungen zu Mutter und Bruder als nicht einfach gestaltet. Die auftauchende Kree-Killerin erscheint zwischen all den geerdeten Familien-Krisen-Dialogen und Begegnungen mit alten Bekannten, wie dem Donut-Shop Betreiber Louis, zuerst wie ein Fremdkörper, der so gar nicht in die Geschichte passt. Erst als Autorin Margaret Stohl, die sonst Science Fiction-Romane schreibt und an der Videospielserie Command & Conquer mitarbeitete, eine Bombe platzen lässt, die die bisherige Handlung, bzw. die Familiengeschichte Carols (und damit ihre eigene) in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt, halten wieder Superhelden-Elemente Einzug in die Story. Das Finale besteht dann ganz Genre-typisch aus einer veritablen Keilerei, mit einem – wir verraten nicht zuviel – dramatisch versöhnlichem Ende.
Dabei haben wir es nicht mit einer Neuerzählung der Origin zu tun (es gibt ja ohnehin zwei – siehe die „Captain Marvel Anthologie“), vielmehr bleibt die „Entstehungsgeschichte“ der Heldin Carol Danvers als neue(r) Captain Marvel gültig (sie erhielt durch die Explosion des Psyche-Magnitrons Kree-Kräfte) und wird um einen interessanten Aspekt ergänzt und damit bestenfalls neu interpretiert bzw. erweitert. Für alle Fans der Figur – ob Kinobesucher oder Leser der bereits erwähnten Anthologie – ist die dicht und intensiv erzählte Story, die anfangs so weit weg vom Superhelden-Alltag führt, damit Pflichtlektüre. Gestaltet wurde der Band von Routinier Carlos Pacheco, der u.a. bereits die Fantastischen Vier und die X-Men in Szene setzte. Sein klarer, realistischer und schnörkelloser Stil wechselt zwischen ausdrucksstarken Gesichtern und unterkühlter Atmosphäre, was den Tenor des Bandes wiederspiegelt. Dass er sich dabei auch auf Action-Sequenzen versteht, wissen wir schon lange. Ein schöner weil informativer Einblick in die Entstehung des Bandes bieten das abschließende Statement Margaret Stohls sowie die detaillierten Anmerkungen von Carlos Pacheco. (bw)
Captain Marvel: Die ganze Geschichte
Text: Margaret Stohl
Bilder: Carlos Pacheco, Marguerite Sauvage, Erica D’Urso, Julian Totino Tedesco (Cover)
148 Seiten in Farbe, Softcover
Panini Comics
16,99 Euro
ISBN: 978-3-7416-1125-4