Paradiesische Zustände –die kann es ja wohl nur ohne die ungehobelten, viehischen Männer geben. Davon ist zumindest Hippolyta, die Königin der Amazonen, überzeugt, die nach einem ruppigen Zusammentreffen mit dem garstigen Herkules ihre Schwestern auf die entlegene Insel Themyscira führt. Dort lebt die Damenschar dank Quelle der Jugend 3000 Jahre unbehelligt, Hippolyta herrscht weise und erschafft sich aus Lehm sogar eine Tochter: Diana, gesegnet mit sogar für Amazonen-Verhältnisse übermächtiger Kraft, Kampfgeist und Heilkunst. Die liebe Diana ist allerdings durchaus gefrustet – als ewige Prinzessin darf sie zwar jagen und per Purpurstrahl Tiere heilen, aber Frau Mama untersagt ihr strikt, an den Spielen teilzunehmen, in denen alljährlich die Kriegerinnen ihre Kräfte messen und dabei in einen ordentlichen Rausch verfallen. Das lässt sich die junge Dame nicht mehr gefallen, schnappt sich als Provokation die Maske des Herkules und reizt ihre Schwestern damit zum Kampf, in dem sie ihre alte Gefährtin Mala denn auch schmählich besiegt.
Diese offene Revolte hat einen tieferen Grund: am Strand hat Diana einen schwer verletzten Piloten entdeckt, der mit seinem Kampfjet abgestürzt ist und im Sterben liegt. Nachdem sämtliche Heilungsversuche scheitern, fordert Diana als Lohn der Siegerin Malas unsichtbaren Gleiter und macht sich zum Entsetzen ihrer Mutter auf in die Menschenwelt, um den Piloten, der auf den Namen Trevor hört, dort der Pflege seiner Artgenossen zu übergeben. Dort wartet das blanke Entsetzen auf Diana: zwar gelingt es, Trevors Leben zu retten, aber die Zustände im Krankenhaus scheinen für die Amazonenprinzessin unfassbar. Die kranken Frauen sind schwach, nahezu widerstandslos überlässt die von Männern dominierte Welt sie dem Tod, und die anrückenden Soldaten sind für Diana bestenfalls kleine Kinder, die sich in albernen Spielereien ergehen. Aber auch anderes Ungemach lauert auf die Amazone: kaum hat sie mit einigen tatkräftigen Studenten-Mädels um die burschikose Beth Candy Freundschaft geschlossen, trifft sie der lange Arm ihrer Mutter. Hippolyta hat ihr niemand anders als die Medusa selbst hinterhergeschickt, um die abtrünnige Tochter zurückzuholen, die sich daraufhin freiwillig einem Tribunal stellt…
Grant Morrison jongliert unter der „Alternative World“-Flagge „Erde Eins“ geschickt mit der Origin eines ikonischen Charakters, wie das J. Michael Straczynski und Geoff Johns schon für Superman und Batman erledigten. Für seine Version der Herkunft der Wunderfrau greift Morrison dabei auf zentrale Elemente zurück, die schon William Moulton Marston ersann, der die Figur 1941 in „All Star Comics“ 8 einführte. Eine zentrale Rolle übernimmt dabei das Lasso der Wahrheit, das Marston, nebenbei auch einer der Erfinder des Lügendetektors, seiner Heldin von Anfang an mit auf den Weg gab. Leitmotivisch durchzieht das Lasso die Geschichte, die sich – wie bei Morrison üblich, der uns ja auch in „Final Crisis“ mit Dimensions- und Erzählsprüngen herausforderte – nicht linear, sondern in bester „Citizen Kane“-Manier aus verschiedenen Blickwinkeln und Zeitebenen heraus entfaltet. Während ihres Tribunals vor der Amazonengemeinschaft mitsamt den Moiren treten neben Diana selbst diverse Zeugen auf, die durch das Lasso zur Wahrheit gezwungen ihre Aussagen machen – darunter Mala, Dianas ex-Geliebte, ihre Lehrerin Althaia, aber auch die voluminöse Beth und letztlich sogar Hippolyta selbst.
Auch der Absturz des Piloten Steve Trevor und seine Rückführung in die Welt der Sterblichen (die den Trailern zu urteilen nach auch in der kommenden Wonder Woman-Verfilmung verarbeitet zu sein scheint) sowie die tatkräftige Beth Candy und ihre Holliday Girls (die Diana mit einem Girlie Makeover inklusive Makeup und Zirkusklamotten so richtig zum Hingucker machen) stammen direkt aus Marstons ersten Wunderfrau-Geschichten, wobei Morrison die Konstellationen deutlich verschärft. So entsteht nicht nur ein veritabel feministischer Blick auf die Unmenschlichkeit der Männerwelt, die in Hippolytas magischem Spiegel und in der Realität der USA als gewalttätig und sexistisch erscheint, sondern auch ein ausgewachsener Generationenkonflikt, in dem Diana ihre Mutter anklagt, sie als künstlich geschaffene Tochter zu instrumentalisieren, zu unterdrücken und ihre wahre Herkunft bewusst zu verschleiern. In dieses bunte Kaleidoskop von Moral, Recht und Identität mischen sich Elemente von Geschlechterrollen (Diana spricht relativ offen über ihre Liebe zu Mala) und Hommagen an Marston, der als alter Bondage-Freund seine Wonder Woman gerne gefesselt und in suggestiven Posen zeigte.
Mindestens ebenso bemerkenswert ist dabei die zeichnerische Urgewalt, mit der Yannick Paquette diese Szenerie umsetzt: fast rauschhaft ziehen die Bilder vorüber, quer über die Seiten, die Panels überbordend und durchzogen mit den optischen Leitmotiven des Lassos oder auch dem ultimativen Wonder Woman-Gestaltungsmoment, dem Sternen-Banner. Dabei gesellen sich energetische Szenen (wie etwa das ikonische Stemmen eines Militärjeeps) mit Panorama-Blicken und einer auch in ihrer leichten Stilisierung mehr als reizvollen Inszenierung der Titelfigur und ihrer Kampfgenossinnen. Für Kenner der Materie somit eine stilvolle, gekonnte Verneigung und gleichzeitig Neuinterpretation der reichen Historie – und für Neulinge ein gelungener Einstieg in die Welt der Wunder. Was wiederum bestens zum kommenden Wonder Woman-Film passt, von dem wir hoffen, dass er nach dem passablen Dawn of Justice und der leider versemmelten Suicide Squad der erste wirklich gelungene Beitrag zum DC Kinouniversum wird. (hb)
Wonder Woman: Erde Eins, Band 1
Text: Grant Morrison
Bilder: Yannick Paquette
144 Seiten in Farbe
Panini Comics
16,99 Euro
ISBN: 978-3-74160-028-9