Literarisches Quartett auf ganz eigene Art: gleich vier Umsetzungen literarischer Klassiker gibt es in diesem voluminösen Band zu bestaunen, alle Werke bekommen dabei die unnachahmliche Crepax-Behandlung, die immer engstens am Original bleibt, aber dabei stets auch die ureigenen Akzente des Altmeisters setzt. Guido Crepax frönte dem Genre der illustrierten Klassiker wie kaum ein anderer Künstler – mit Adaptionen von Poe, Casanova, Bram Stoker und eben den auch hier präsentierten Autoren schöpfte Crepax den Fundus der Weltliteratur umfassend ab. Sicherlich nicht ohne Hintergedanken: nach der enormen Resonanz auf seine Reihen wie etwa Valentina und Bianca landete er mit seiner Umsetzung der skandalträchtigen „Geschichte der O.“ von Dominique Aury 1975 einen Welterfolg, stets umwittert von Zensur-Attacken aufgrund der Crepax-typischen höchst erotischen Einschläge.
1979 schlug er mit „Justine“ nach de Sade in eine ähnliche Kerbe und eröffnete dann 1987 mit seiner höchst eindrucksvollen „Dracula“-Adaption den Reigen einer ganzen Reihe von Literaturumsetzungen, die ihm in einer sich wandelnden Comic-Welt weiterhin ein Publikum sicherte, das unter der Rubrik „Graphic Novel“ nach entsprechendem Material verlangte. So entstanden in der letzten Schaffensphase des Maestros eigene Versionen von „Dr. Jekyll e Mr Hide“ (1987), „Giro di vite“ (The Turn of the Screw, 1989), „Il processo di Franz Kafka“ (1999) und als Grande Finale dann noch eine Gestaltung von Mary Shelleys „Frankenstein“, das 2002 den Schlusspunkt unter Crepax‘ Lebenswerk setzte.
Die hier von Splitter vorgelegte Zusammenstellung eröffnet somit einen faszinierenden Überblick über die Techniken und inhaltlichen Schwerpunkte, die Crepax dosiert und quellengerecht einsetzte. Bei seiner Version von Robert Louis Stevensons Klassiker über den Arzt Dr. Jekyll, der der Enge der viktorianischen Gesellschaft entflieht, indem er sich einen Doppelgänger schafft, über den er letztlich die Kontrolle verliert, spielt Crepax die in der Vorlage angelegten erotischen Elemente voll aus – Jekylls Alter Ego Hyde glänzt nicht nur durch Gewalttätigkeit, sondern auch durch sexuelle Abgründigkeiten, die sich auf Weiblein und Männlein gleichermaßen erstrecken. Hyde lauert wie eine Schlange hinter Sofas und Vorhängen, während sich Damen oder auch Pärchen in S&M-Spielen ergehen – was dem Geiste der Vorlage durchaus gerecht wird, als Jekyll einräumt: „Immer wieder überfiel mich diese Rastlosigkeit. Diese Begierden nach verbotenen, unwürdigen Gelüsten.“
Jenseits aller psychoanalytischen Deutungen des Es, das das Ich überrennt, steht allerdings auch die Auslegung, dass Stevenson eher die bigotte, doppelmoralische viktorianische Gesellschaft selbst aufs Korn nahm, die ein ausgewogenes Leben nur mit einer sprichwörtlich gespaltenen Persönlichkeit ermöglichte: „Jekyll weiß nichts von Hydes Qualen. Er wollte, dass Hyde durch und durch schlecht ist… weil er wusste, wie schwer ein vollkommen tugendhaftes Leben ist.“ Dabei behält Crepax die Erzählstruktur der Vorlage akribisch bei: anfänglich wird der Leser im Glauben gelassen, Hyde sei tatsächlich ein Bekannter von Hyde, wie in einem Detektivroman entfaltet sich die Wahrheit erst mit diversen Briefen Hydes an seine ehemaligen Freunde. In der Gestaltung finden sich dabei neben den Crepax-typischen Elementen – filmisches Aufsplitten der Panels, atmosphärisches Schwarz-Weiß, Art Deco-Züge, körperliche Deformierung – klare Referenzen auf Vorlagen der Leinwand: bei der Gestaltung von Hyde und auch der zentralen Verwandlungsszene verneigt sich Crepax eindeutig von der definitiven Filmfassung des Stoffs, die Rouben Mamoulian 1931 mit Fredric March in der Titelrolle ablieferte.
Nicht ganz chronologisch schließt sich Crepax‘ Version des unvollendeten Kafka-Romans „Der Prozess“ an, in dem nach den Worten des Originaltextes offenbar jemand Josef K. verleumdet haben musste, bei dem urplötzlich zwei Polizisten auftauchen, die sein Frühstück essen und ihm eröffnen, dass er sich vor Gericht verantworten müsse. Anklage: unbekannt. Alle Versuche K., zu erfahren, was ihm denn eigentlich vorgeworfen wird, scheitern – trotz aller Avancen mit verschiedenen Damen, die der Gerichtsbarkeit nahe stehen, diverser Termine beim völlig nutzlosen Advokaten Huld und dem desolaten Kunstmaler Titorelli, die allesamt die Machtlosigkeit des Einzelnen belegen und bestätigen, dass es einen echten Freispruch nicht geben kann. Nach einer schicksalhaften Begegnung im Prager Dom wird K. schließlich zum Schafott gezerrt und stirbt „wie ein Hund“.
Diesen Alptraum Kafkas – zu deuten wahlweise als Aufarbeitung einer gescheiterten Beziehung, als Allegorie auf die anonymen Mächte, denen das Individuum ausgeliefert ist, als Gerichtssatire oder gar als christliche Erzählung (J.K. wurde auch als Jesus Christus ausgelegt) – setzt Crepax vorlagengetreu um, wobei die Reihenfolge der Kapitel letztlich nicht feststeht, da Kafka selbst die einzelnen Abschnitte in getrennten Heften niederschrieb, die wie sein gesamtes Werk ohnehin nie zur Veröffentlichung vorgesehen waren (der Anweisung, das gesamte Opus zu verbrennen, widersetzte sich Kafkas Weggefährte Max Brod nach Kafkas Freitod ja bekannterweise). Die erotischen Elemente fährt Crepax hier deutlich zurück, bestenfalls in den Annäherungsversuchen an diverse Damen blitzt dieser Aspekt durch – zentraler ist hier vorlagengetreu ein kantiger, scherenschnittartiger, alptraumhafter Stil, der Josef K. eng angelehnt an das Erscheinungsbild Kafkas zeichnet und in der schemenhaften Darstellung des Prager Doms kulminiert, in dem auch die zentrale Erzählung „Vor dem Gerichte“ integriert ist.
Die komplexe Erzählstruktur der Romanvorlage behält Crepax auch in seinem Alterswerk bei: wie bei Mary Shelley besteht die Erzählung um den modernen Prometheus auch bei Crepax aus drei in sich verschachtelten Berichten. Der Nordpolforscher Walton schreibt seiner Schwester über seine Erlebnisse und berichtet in diesem Rahmen von der Lebensbeichte des geschundenen Victor Frankenstein, in dessen Ausführungen sich seinerseits die von der Kreatur selbst berichteten Ereignisse finden. Somit näher am Roman als die maßgeblichen Verfilmungen, lehnt sich Crepax optisch dennoch an die definitive Version mit Boris Karloff an, komplett mit flachem Kopf, unförmigem Körper und Plateauschuhen. Ansonsten rast Crepax durchs Geschehen, nimmt schlaglichthaft alle zentralen Szenen mit (sogar inklusive der kurzen Episode auf den Orkney-Inseln), zeichnet allerdings in einem deutlich reduzierten, fast schon skizzenhaften Duktus, wobei sich die Darstellung der Kreatur, die auch hier keinen Namen und damit keine Identität hat, durchaus wandelt.
In seiner leicht aktualisierten Version von Henry James‘ klassischer Horror-Novelle „The Turn of the Screw“ findet Crepax wieder eine ausladende Spielwiese für seine Erotika im Art Deco-Stil: James‘ Vorlage wird vom 19. Jahrhundert in die zwanziger Jahre versetzt, die hitzige Phantasie des Kindermädchens, das (vielleicht?) die Geister des verstorbenen Hausdieners und ihrer Vorgängerin Miss Jessel sieht und die beiden Kinder Flora und Miles meint schützen zu müssen, inszeniert Crepax in ausufernd-expliziten Stil, als sich das Kindermädchen den Geistern immer wieder entkleidet (und vollumfänglich parfümiert) darbietet und durchaus heftige S&M-Spiele miterlebt (oder dies zumindest glaubt). Ob die Geistererscheinungen tatsächlich über das Landhaus hereinbrechen oder sich das Kindermädchen alles nur in Anfällen von Hysterie einbildet, das bleibt bei Crepax ebenso offen wie bei James, wo sich das Prinzip des unzuverlässigen Erzählers durchgehend findet.
Crepax orientiert sich allerdings optisch und inhaltlich wieder an einem Kino-Vorbild: in der durchaus erschreckenden Leinwandfassung „The Innocents“ von 1961 (am Drehbuch war hier unter anderem Truman Capote beteiligt, hierzulande lief der Streifen unter dem malerischen Titel „Schloß des Schreckens“) stirbt Miles eher mysteriös als durch die Hand des Kindermädchens wie in James‘ Erzählung. Der Titel bleibt bei Crepax unerklärt, in der Novelle will die Interpretation hier bisweilen eine Allegorie auf restriktive Pädagogik-Eisenbartmethoden des 19. Jahrhunderts erkennen – Crepax interessiert sich mehr für die psychologischen Abgründe einer offenkundig unterdrückten Sexualität, die das Kindermädchen in den Wahn zu treiben scheint.
Wer sich also mit dem Genre der Literaturadaption, aber vor allem mit dem Spätwerk eines Meisters des Erwachsenencomics und der schick so benannten Graphic Novel befassen möchte, dem sei dieser Foliant dringend ans Leserherz gelegt – zumal man zentrale Werke der Weltliteratur hier visionär interpretiert (wieder) entdecken kann. (hb)
Crepax: Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Der Prozess,
Die Drehung der Schraube & Frankenstein
Text & Story: Guido Crepax, nach Robert Louis Stevenson,
Mary Shelley, Franz Kafka, Henry James
Bilder: Guido Crepax
280 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
55 Euro
ISBN: 978-3-98721-315-1