Kuhhirte ist auch nicht mehr der Beruf, der er mal war. Sagt zumindest der knorrige alte Ambrosius „Old Spur“ Morgan, der für die Double D Ranch Zäune flickt und auch sonst keinerlei gloriosen Momente mehr zu haben scheint. Plötzlich allerdings kommt in Form des zerknitterten Briefs eine enorme Wendung in sein Leben: Anna Saint James schreibt ihm da, eine längst verflossene und vergessene Liebe, die ihm eröffnet, dass er eine Tochter hat: Liza ist selbst längst verheiratet und hat sich mit ihrem Mann aufgemacht in Richtung Mexiko. Seitdem fehlt allerdings jede Spur, und Anna bittet Ambrosius darum, sich auf die Suche zu machen. Das lässt sich der Haudegen nicht zweimal sagen und meldet sich bei seiner Chefin, der Ranchbesitzerin Meredith, ab.
Kurz vor der Abreise legt er noch den fiesen Dougherty um, der sich die Ranch schon lange unter der Nagel reißen wollte, und macht sich dann auf den langen Weg nach Mexiko. Eines Nachts wird ihm sein Pferd gestohlen, aber gleichzeitig findet er einen neuen Begleiter: ein kleiner Indianerjunge schließt sich ihm schweigend an, den Ambrosius anfangs nur für eine Halluzination hält und ihn daher „Ghost Kid“ nennt. Im kleinen Nest Nogales kurz hinter der mexikanischen Grenze findet Ambrosius dann endlich eine Spur: der örtliche Truppenkommandant Crawford weiß zu berichten, dass Annas Mann getötet und Anna selbst entführt wurde. In einem Bordell bekommt Ambrosius den Tipp, dass ein Kunde namens Esposito seine Tochter bedroht und mit sich genommen hat. Ambrosius ist wild entschlossen, seine Tochter aus diesen Fängen zu befreien…
„In der Ferne sehe ich die Lichter von Denver. Heute ist das eine große Stadt. Die Eisenbahn bringt seit dreißig Jahren Scharen von Hungerleidern auf der Suche nach einer besseren Welt hierher. Old Red Wolf sagte mir einmal: Deine Welt wird Euch töten, wie sie mein Volk tötet!“ In diesen desillusionierten Gedanken des alten Cowboys Ambrosius Morgan schwingt die ganze Atmosphäre dieses Epos mit, die von Tiburce Oger im gleichen Duktus und Stil wie sein „Buffalo Runner“ ausgebreitet wird. Der Westen hat nichts von seinem gloriosen und schon immer rein erfundenen Ruf als Heimat von mutigen Grenzgängern, pionierhaften Siedlern und edlen Wilden: ein Sammelbecken der Gescheiterten, ein Schmelztiegel von abgewrackten Glücksrittern, die von der Aussicht auf günstiges Land und lose Gesetze den Ureinwohnern ihr Land abknöpften.
Ambrosius ist, als wir ihn treffen, zynisch und rabiat, auch wenn ihn zarte Bande mit der Ranch-Leiterin Meredith verbinden. Die Erkenntnis, eine Tochter zu haben, setzt einen massiven Prozess in Gang: es steht völlig außer Frage, dass er sich auf die Suche nach dem Besten macht, was er im Leben jemals zustande gebracht hat. Dabei trifft er immer wieder negative Vertreter seiner eigenen Spezies – von tierquälerischen Quacksalbern über gewissenlose Revolverschwinger bis hin zur Armee, die die mexikanischen Revolutionäre in Schach halten soll und dabei auch gerne „Buffalo Soldiers“ einsetzt, also afroamerikanische Angehörige der Nordstaaten-Truppen.
Trotz aller comichaften Gestaltung realistisch, kompromisslos und in einigen Szenen mit dem geisterhaften Indianerkind, dem Ambrosius mit Güte und Zuneigung begegnet, auch herzerwärmend, so entfaltet Tiburce Oger die Erzählung, deren Star aber wie schon in „Buffalo Runner“ die zeichnerische Inszenierung ist. Großformatige, gemäldeartige Darstellungen beeindrucken atmosphärisch und transportieren die alles dominierende endlose Weite der Landschaft, in der die Einzelschicksale nahezu zu verschwinden scheinen. Ein erneut epischer Spätzeit-Anti-Western, der bei Splitter standesgemäß hochwertig aufgemacht in einem Band erscheint. (hb)
Ghost Kid
Text & Bilder: Tiburce Oger
80 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
22 Euro
ISBN: 978-3-96792-066-6