Alfred Hitchcock, Band 1 (Splitter)

März 8, 2021

Südfrankreich, 1954. Der weltberühmte Regisseur Alfred Hitchcock dreht seinen neuesten Film über einen Juwelendieb. Abends kommt er mit seinen Stars Cary Grant und Grace Kelly ins Plaudern und erzählt ihnen davon, wie er zum Film kam und seinen charakteristischen Stil entwickelte. Schon als kleiner Junge, der im englischen Stamford aufwächst, beschäftigt sich „Fred“ lieber damit, seine Mitmenschen zu beobachten und ihre Marotten genau zu analysieren. Er ist fasziniert von Landkarten und Zugfahrplänen – ganz im Gegenteil zu seinem Bruder, der nach dem frühen Tod des Vaters den elterlichen Laden übernimmt. In der Jesuitenschule besucht Hitch mehrfach sein Lieblingsmuseum: das Crime Museum of Scotland Yard – und er beginnt, mehrmals die Woche das Kino zu besuchen. Als die Famous Players Lasky eine Zweigstelle in London eröffnen, ergreift Hitchcock seine Chance und steigt als Dekorateur, Maler und Zwischentiteldesigner ins Filmgeschäft ein, wo er auch bald seine zukünftige Frau Alma Reville kennenlernt. In den Islington Studios saugt Hitchcock das technische Handwerk des Filmemachens auf, aber seine erste Regiearbeit „Nummer 13“ gerät zu einem gehörigen Fehlschlag.

Hitch lässt sich nicht entmutigen, und auch der Produzent Michael Balcon erkennt das Talent des jungen Mannes, der in den Filmen des Starregisseurs Graham Cutts mehr und mehr hinter den Kulissen die Fäden zieht, da Cutts mehr Interesse an jungen Schauspielerinnen als an seiner Arbeit zeigt. 1924 schließlich kommt es zu einer entscheidenden Wendung: Balcon schickt Hitchcock nach Berlin, wo er in den weltberühmten Filmstudios von Babelsberg die seinerzeit für Furore sorgende deutsche Filmkunst aus erster Hand kennenlernen kann. Hitchcock ist zutiefst beeindruckt vom expressiven, ideenreichen deutschen Stil, den er unter anderem am Set von Murnaus „Letztem Mann“ fasziniert studiert. Für Balcons Partner Erich Pommer realisiert Hitchcock 1925 die Produktion „The Mountain Eagle“ noch unter Graham Cutts, bevor Balcon ihn dann für „The Pleasure Garden“ erstmals selbst im Regiestuhl Platz nehmen lässt. Mit „The Lodger“ liefert Hitch 1926 dann ein erstes frühes Meisterwerk ab, eine finstere Variante der Jack the Ripper-Story, die Hitch in bester deutscher Manier fast schon als expressionistischen Film inszeniert.

Wie am Fließband folgen die weiteren Auftragsarbeiten, immer begleitet von Alma, die er mittlerweile geheiratet hat, immer wahnwitzigeren Streichen, mit denen Hitch Stars und Mitarbeiter in den Wahnsinn treibt, der Geburt einer kleinen Tochter, die ihn mit Angst und Schrecken erfüllt, und einem Wechselbad von gefeierten Erfolgen, die ihn zum bestbezahlten Regisseur Englands machen, und Flops, vor denen selbst er nicht gefeit ist. 1929 schafft Hitch auch die Wende zum Tonfilm: „Blackmail“ wird als Stummfilm gedreht und im Nachgang nochmals vertont, „Murder“ entsteht 1930 wie damals durchaus üblich in einer englischen und einer deutschen Fassung. Mit „Rich and Strange“ muss Hitchcock danach allerdings einen Rückschlag einstecken, und die Operette „Waltzes from Vienna“ endet im kompletten Fiasko. Hitchcocks Karriere scheint 1933 schon beendet, als er beginnt, eine Idee zu einem Abenteuer des Roman-Detektivs Bulldog Drummond zu entwickeln, die schließlich als „The Man Who Knew Too Much“ Gestalt annimmt… 

Aus der schier unüberschaubaren Masse von Graphic Novels, die das Leben und Werk berühmter Persönlichkeiten nachzeichnet, ragt Noël Simsolos (der im Metier durchaus bewandert ist, siehe seine Biographie von Sergio Leone) zweibändige Biographie des berühmtesten Regisseurs aller Zeiten deutlich heraus. Mit enormem Kenntnisreichtum skizziert Simsolo in Band 1 den ersten Teil von Hitchcocks Karriere, die nach ersten Gehversuchen im Stummfilm bereits alle Markenzeichen des typischen Stils des „Master of Suspense“ entwickelte. Vor allem der Besuch in den Ufa-Studios hinterließ dabei einen bleibenden Eindruck, den Simsolo hier mit einem Dialog zwischen Hitch und Murnau am Bahnhofs-Set des „Letzten Manns“ augenfällig macht, als Murnau erklärt: „Die Kulisse ist nicht entscheidend. Wichtig ist, was man auf der Leinwand sieht!“ Auch Hitch erklärt in Folge unablässig: „Das Visuelle ist mein Stil!“, er versucht wie Murnau möglichst filmisch zu erzählen und störende Zwischentitel zu vermeiden.

Die deutschen Techniken wie expressive Bauten (die er unter anderem im Kunstwald der „Nibelungen“, aber auch in der Heideburg aus Arthur von Gerlachs Storm-Verfilmung „Zur Chronik von Grieshuus“ auf dem Studiogelände in Augenschein nahm), suggestive Kamerafahrten und bedeutungstragende Schnittfolgen integrierte Hitchcock derart in sein eigenes Werk, dass sein Produzent Woolf ihm entgegenschmetterte, dass das Publikum in England derartiges nicht gewohnt sei und er diese teutonische Künstelei doch gefälligst unterlassen solle – bis hin zum Versuch, „The Man Who Knew Too Much“ nicht in die Kinos zu bringen, was Balcon durch eine Testvorführung zu verhindern wusste. Schlaglichthaft zeigt Simsolo zentrale Filmszenen in ihrer Entstehung, so etwa den Moment in „Murder“, in dem Sir John vor dem Spiegel darüber sinniert, warum er als Geschworener nicht hartnäckiger für die Unschuld der beschuldigten Schauspielerin plädiert hat.

In einer aufwändigen Doppelseite zeigt Zeichner Dominique Hé, wie Hitch durch ein Orchester hinter der Filmkulisse und einen im Vorfeld aufgezeichneten, über Lautsprecher abgespielten Monolog diese Szene geschickt und wirkungsvoll inszenierte. Durch den Kunstgriff des Rückblicks, in dem Hitch seinen beiden Stars Grant und Kelly sein Leben berichtet, beleuchtet Simsolo auch die Schattenseiten seines Charakters: Hitch gibt freimütig zu, ein Voyeur zu sein, der von sexuellen Handlungen zwar weitgehend Abstand nimmt (selbstironisch stellt er fest, dass seine Leibesfülle dabei hinderlich sei), aber seine bevorzugt blonden Darstellerinnen gerne leicht sadistisch behandelt. Er hat eine Vorliebe für Handschellen, was er in „The 39 Steps“ ebenso witzig wie plakativ ausspielt und studiert distanziert alle „Formen der Fleischeslust“, die er in seinen Filmen ungeniert ausbreitet.

Dabei kommt ihm durchaus zu Gute, dass in einer kurzen Phase in den frühen 30er Jahren keinerlei Zensur standfindet – wodurch in „Murder“ eine Nahaufnahme von Damenunterwäsche ebenso möglich ist wie ein offen als Transvestit dargestellter Trapezkünstler. Vor allem aber ist Hitch fasziniert vom Mord in allen Spielarten – und er pflegt einen sehr ruppigen Sinn für Humor, unter dem Schauspieler und Mitarbeiter gleichermaßen leiden. Die strenge katholische Erziehung klingt in Simsolos Reihung von Episoden als Hintergrund für diese Charakterzüge ebenso an wie der krankhafte Einfluss der Mutter, die nach dem frühen Tod des Vaters in eine Depression verfiel und eifersüchtig über den Sohn wachte – mehr als einmal rückt Simsolo und auch die zeichnerische Inszenierung dieses Verhältnis durchaus in die Nähe eines gewissen Motel-Besitzers, der seiner Mutter ebenfalls durchaus zugetan ist.

Mit feinem Strich setzt Dominique Hé diesen Reigen in Szene, wobei die Original-Filmszenen aus „The Lodger“, „Murder“, „The Man Who Knew Too Much“ und „The 39 Steps“ ebenso gekonnt erscheinen wie Hitchcocks zunehmender Körperumfang und die Manierismen seiner Stars (Marlene Dietrich mit arrogantem Blick, Cary Grant mit kaum kaschierten Abseitigkeiten, Grace Kelly als gespielt unterkühlte Blondine). Somit ein mehr als spannender Abriss des ersten Abschnitts der Karriere des Meisterregisseurs, dessen englische Phase in Teilen deutlich innovativer und spektakulärer verlief als die bekannteren späteren Hollywood-Streifen, die zwar in Vistavision und Technicolor erstrahlten, aber die düstere Atmosphäre der Schwarz-Weiß-Filme oft vermissen lassen. Nachdem wir als Publikum wissen, dass es Band 2 gibt, leben wir ganz stilecht in Suspense – bis Ende des Jahres, wenn es dann mit Teil 2 über den großen Teich geht. (hb)

Alfred Hitchcock, Band 1: Der Mann aus London
Text: Noël Simsolo
Bilder: Dominique Hé
160 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
24 Euro

ISBN: 978-3-96219-585-4

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