H.G. Wells: Der Unsichtbare, Band 1 (Splitter)

Februar 15, 2018

Seltsam sieht er aus, der Fremde, der in einer klirrenden Winternacht im englischen Nest Iping in die Ortskneipe trottet und dort eine warme Mahlzeit, ein Zimmer und seine Ruhe verlangt. Zunächst zeigen sich die Landlords Hall erfreut, aber das Gebaren des Besuchers wird immer absonderlicher: Er scheint komplett in Bandagen eingewickelt, die Augen von einer Brille verdeckt, und wartet sehnsüchtig auf seine Koffer, die am nächsten Tag vom Bahnhof aus eintreffen. Sofort macht sich die Gestalt daran, den Gemeinschaftsraum des Pubs in Beschlag zu nehmen und dort ein veritables kleines Chemie-Labor aufzubauen. Die Neugierde der Gemeinde, was es denn mit dem „Schwarzen Mann“, der vermummt durch die Straßen geht, kennt keine Grenzen, und so kommt es, wie es kommen muss: wieder einmal bedrängt in seinem Zimmer, verliert der Unbekannte die Nerven und konfrontiert die naseweisen Besucher: „Genug! Seien Sie jetzt still! Sie verstehen weder, wer ich bin…noch was ich bin! Also werde ich es Ihnen zeigen! Ein für alle Mal!“

Zum Entsetzen der Anwesenden reisst sich der Fremde die Bandagen vom Leib und löst sich anscheinend in Luft auf: unsichtbar ist er, wie berauscht von seiner Macht, mit der er nun seine vermeintlichen Widersacher gewaltsam aus dem Raum befördert und sich wild lachend davon macht. Auf seiner Flucht über Stock und Stein rekrutiert er den Landstreicher Thomas Marvel, der für ihn nochmals in den Gastraum eindringt und ein paar offenbar wertvolle Bücher herausschafft, bevor der Unsichtbare zur Demonstration seiner Allmacht das Zimmer anzündet. Auf seinem Weg durch die Nachbarorte zieht er eine Schneise des Schreckens, aber offenbar trifft ihn doch eine ziellos abgefeuerte Kugel, so dass er sich in die Hände des Dorfarztes begeben muss…

Mit dem „Invisible Man“, der 1897 als eine der „scientific romances“ erschien, schuf H.G. Wells eine der ikonischsten Figuren der phantastischen Literatur. Die Geschichte des Wissenschaftlers Griffin, der ein Unsichtbarkeitsserum an sich selbst testet, nur um festzustellen, dass der Effekt nicht umkehrbar ist, fand den Weg in unzählige Adaptionen und Varianten, wovon die Universal-Verfilmung von 1933 sicher zu den bekanntesten zählt. James Whale raffte hierfür die Romanvorlage auf die einschlägigsten Szenen zusammen, wobei insbesondere die Auftaktszenen in Pub in Iping, auf die auch diese Comic-Adaption von Dobbs einiges Augenmerk legt, im Gedächtnis bleiben, ebenso wie die bemerkenswerten Effekte, in denen sich der Unsichtbare entkleidet und als geisterhaft bewegtes Hemd oder Hose seine Gegner umtanzt. Claude Rains überzeugte als Unsichtbare vor allem durch seine stimmliche Interpretation des Charakters, der in Whales Fassung durch einen Fehler in der Formel langsam in den Wahnsinn abgleitet (und der es sogar in den Titelsong der Rocky Horror Picture Show schaffte, wo uns die Lippen verkünden: „Claude Rains was the Invisible Man).

Die Ankunft des seltsamen Fremden

Nach einigen weiteren Universal-Filmen, darunter die Komödie „The Invisible Agent“, die fesche „Invisible Woman“ und (als Gast) „Abbott and Costello meet Frankenstein“, folgten diverse Fernsehserien (durchaus beachtlich, aber kurzlebig war z.B. die Reihe von 1975) und freiere Filmfassungen, allen voran der Actionreißer „Hollow Man“, in dem Kevin Bacon in die Rolle des durchsichtigen Verbrechers schlüpfte. Wie nahezu jeder Charakter der viktorianischen Literatur treffen wir den Unsichtbaren natürlich auch in Alan Moores ausladender Saga „The League Of Extraordinary Gentlemen“ wieder, wo Griffin das Serum allerdings nicht erfunden, sondern gestohlen hatte. Wie immer bei Wells dient das utopische Setup, das zumindest an der Oberfläche in den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit verankert ist (Griffin studiert Optik und findet einen Weg, die Lichtbrechung eines menschlichen Körpers zu neutralisieren), zur scharfen Analyse gesellschaftlicher und menschlicher Eigenheiten: war es beim „Krieg der Welten“ der britische Kolonialismus und bei der „Zeitmaschine“ ein entfesselter Kapitalismus, richtet sich Wells‘ kritischer Blick hier, ähnlich wie der „Insel des Dr. Moreau“, auf eine moralfreie Wissenschaft, die fern aller Ethik und Verantwortung agiert.

Griffin verfällt mehr und mehr in wahllose Gewaltausbrüche und Allmachtsphantasien: „Ein unsichtbarer Mann ist ein mächtiger Mann, für den alles möglich ist!“ Im Gegensatz zur Whale-Verfilmung allerdings ist das Serum nicht fehlerhaft, sondern enthüllt nur die negativen Grundzüge in Griffins Charakter, der schlicht und einfach Freude daran hat, Menschen zu drangsalieren und wahllos zu terrorisieren, wie auch der Angriff der Marsianer schon die atavistischen Züge unter der dünnen zivilisatorischen Hülle freilegte. Dobbs gönnt sich bei seiner Fassung, anders als bei seiner Adaption des „Moreau“, wieder zwei Bände, die in ihrem hier vorliegenden vielversprechenden Auftakt nahe an der Vorlage bleibt und auch manche Referenz auf die Whale-Filmversion bietet. Wie immer stilecht inszeniert (dieses Mal von Chris Regnault) und aufgemacht wie ein Buch aus der Leihbibliothek, liefert auch dieser Band einen gelungenen Beitrag zu Dobbs‘ viktorianischem Comic-Kanon. Eine kleine Nerd-Notiz sei am Rande noch erlaubt: der Roman gleichen Titels von Ralph Ellison aus dem Jahr 1952 verwendet das Symbol der Unsichtbarkeit, um auf die Rassenungleichheit in den USA der 50er Jahre hinzuweisen. Und wird von Netflix-Serien-Held Luke Cage gelesen. (hb)

H.G. Wells: Der Unsichtbare, Band 1 (von 2)
Text: Dobbs, nach H.G. Wells
Bilder: Christophe Regnault
56 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
15,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-501-5

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