Séancen haben was ganz Eigenes – vor allem, wenn daran handfeste Größen der Comicszene mit klingenden Namen wie Frank Miller, Otto Binder und Randy Cox mit von der Partie sind. Der Ermittler, der immer noch im Auftrag des Präsidentschaftskandidaten Turley die Hintergründe des Attentats durch The Kid und den neuen Rorschach ergründen soll, kommt über eine Tonbandaufnahme einer solche Sitzung auf die Spur dieser seltsamen Zusammenkünfte und trifft mit niemand anders als Frank Miller zusammen, der mit seiner „Rückkehr des schwarzen Pfeifers“ eine Comicfigur revolutionierte. Miller, mittlerweile selbst mit Rorschach-Maske, berichtet dem Ermittler davon, dass Otto Binder die Sitzungen veranstaltete, um Kontakt mit seiner verstorbenen Tochter aufzunehmen. Der junge Miller lernte bei diesen Sessions auch den Comiczeichner Myerson kennen, der ihn Jahre später als Rorschach maskiert gemeinsam mit The Kid aufsucht und ihm eröffnet, dass sie überzeugt sind, die alten Tonbänder enthielten in der Tat verschlüsselte Hinweise.
Allerdings nicht aus einer dubiosen Geisterwelt, sondern von niemand anderem als Dr. Manhattan, der aus seinem Exil auf dem Mars heraus auf diesem Wege vor einer bevorstehenden neuen Tintenfisch-Invasion warnt und Will Myerson mitteilt, er sei „die Maske“, also der neue Rorschach, und ihr Auftrag sei eindeutig: „Tötet Turley“. Miller war beeindruckt und verschaffte den beiden Zugang zu einer verlassenen Farm im mittleren Westen, wo man sich auf den „Widerstand“ vorbereitete, Schießstand und geheime Pläne inklusive. Als der Ermittler die Farm durchsucht, stößt er verstreckt in der Jauchegrube auf eine weitere Leiche, die er als Jonathan Oates, Sicherheitsangestellter, der schon Redfords Wahlkampagnen 2016 und 2020 begleitete, identifiziert.
Der Ermittler konfrontiert schließlich seinen Auftraggeber Alan mit seinen Erkenntnissen: Oates verschaffte Myerson und Kid die erforderlichen VIP-Zutrittsausweise – offenbar ist wirklich etwas dran an der Theorie, dass Redford ganz bewusst einen unliebsamen Kandidaten ausschalten lassen wollte. Problem dabei: die Ausweise konnten nur durch Turleys Büro vergeben werden. Oates‘ junge Assistentin schien Wind von der Sache bekommen zu haben, geriet in Panik, zeichnete ein Geständnis auf und kontaktierte dann kurz vor dem bevorstehenden Attentat den Sicherheitsmann Jacobs, der offenbar sein Kontakt in Turleys Team war. Soweit scheint die Geschiche rund, aber dem Ermittler kommen immer mehr Zweifel, nicht zuletzt, weil er in Oates‘ Wohnung verräterische Hinweise findet, die in eine ganz andere Richtung deuten: kann es sein, dass Turley und Alan die ganze Sache inszeniert haben, um ihrem übermächtigen Gegner Redford einen Skandal unterzuschieben und somit endgültig den Sieg davonzutragen, wobei die verletzten Seelen Myerson, Laura Cummings und Frank Miller nur wohlfeile Marionetten waren?
Grande finale furioso in Tom Kings Reboot des psychopathischen Rächers aus Watchmen! In einer pechschwarzen Noir-Detektiv-Story ist nichts, wie es scheint, der namenlose Ermittler entwirrt zunehmend echte und falsche Fährten und steht am Ende, wie so mancher Schwarze Serie-Antiheld vor ihm, selbst als Spielball einer großen Verschwörung da. Verletzte Seelen werden gnadenlos für eigene Zwecke benutzt, Nationalismus und falsch verstandener Patriotismus borden über, persönliche Tragik geht im politischen Spiel unter. Dabei real existierende Comic-Granden in ihrer ganzen realen Fragwürdigkeit direkt einzubauen, muss man sich erst einmal trauen – aber King gelingt es famos, Frank Miller zu integrieren, der in einer kaum kaschierten Anspielung auf seinen Dark Knight desillusioniert feststellt: er habe die heitere Comic-Figur des „Seemann“ seiner Kindertage in ein düsteres Monster verwandelt, um seine eigene Angst zu spiegeln, was Miller bei King in der Rückschau als Irrweg erkennt – die ungetrübte Freude eines Kindes ist doch immerhin mehr wert als jede erwachsende Psychospiele, so der fiktive Miller: das sollte sich der reale Kollege einmal näher ansehen, der ja leider in bedenkliche Pfade abgeglitten ist.
Faszinierend und komplex auch die What If?-Elemente der alternativen Gegenwart, die King entwickelt: Redford ist nicht zuletzt so populär, weil er Vietnam in eine blühende Landschaft verwandelt, schon im Jahr 2000 einen gewissen Osama Bin Laden zur Strecke bringt und damit „irgendeinen Terroranschlag“ verhindert, und nach dem Selbstmord Saddam Husseins 2006 die Hauptstadt Bagdad mustergültig aufmöbelt. Auch wenn der ganz große Paukenschlag am Ende ausbleibt – dass die ganze Sache ein abgekartetes Spiel ist, konnte man sich irgendwie denken, die heraufbeschworenen Verbindungen zu den anderen Watchmen Dr. Manhattan und Comedian bleiben etwas dünn – gelingt King dennoch eine eindringliche Variation eines faszinierenden Charakters in optisch treffsicherer, oft die Zeitebenen durchbrechenden Umsetzung durch Jorge Fornés, bei der natürlich Augenzwinkern und Querverweise in Form von blutigen Smileys nicht fehlen dürfen. Als Kernbotschaft nehmen wir mit: Anhänger von Verschwörungstheorien sind verwirrte Seelen, die selbst leicht zum Opfer und Instrument echter Ränkespiele werden können. Und darüber kann man ja im Zeitalter von Fake News, manipulierten Algorithmen und social media bubbles definitiv mal nachdenken. (hb)
Rorschach, Band 3 + 4
Text & Story: Tom King
Bilder: Jorge Fornés
jeweils 76 Seiten in Farbe, Hardcover
Panini Comics
jeweils 15 Euro
ISBN: 978-3-7416-2471-1 (Band 3)
ISBN: 978-3-7416-2498-8 (Band 4)
