Stell dir vor du bist Elsässer, noch nicht richtig erwachsen und fühlst dich natürlich als Franzose. Dann ist Krieg und deine Heimat gehört plötzlich (wieder) zu Deutschland. Und nicht nur das. Du wirst einberufen. Nicht in die Wehrmacht, sondern in die Waffen-SS. Fliehst du, wird man dich jagen und deine Familie gnadenlos dafür büßen lassen. Also gehst du und kämpfst plötzlich Seite an Seite mit dem Feind gegen die, die dich und deine Familie eigentlich befreien wollen und sollen. So erging es den Malgré-nous („Wider unseren Willen“), zehntausenden von Elsass-Lothringern, die zwangsrekrutiert wurden oder der alternativlosen Einberufung folgten, um Repressalien und Schlimmeres von ihren Lieben fernzuhalten. Und die später nach dem Krieg von den eigenen Leuten geächtet wurden. Einer von ihnen war Marcel Grob, ein 17-jähriger junger Mann aus Kirchberg im Elsass, der 1944 Soldat in der Waffen-SS wurde.
Ihm begegnen wir erstmals Jahrzehnte später. Grob ist inzwischen ein alter Mann von 83 Jahren. Er sitzt in einem Amtszimmer und wird von Richter Tonelli verhört. Der gehört einem Sondertribunal an, das die letzten Nazi-Kriegsverbrecher aburteilen soll. Mit provokanten Fragen und Behauptungen entlockt Tonelli dem greisen Grob nach und nach Details aus seiner Kriegszeit, bis dieser endlich das Leugnen aufgibt und seine ganze Geschichte erzählt: Juni 1944, drei Wochen nach der Landung der Alliierten in der Normandie. Grob absolviert seine Grundausbildung in Stralsund. Danach wird er im Gegensatz zu den meisten Elsässern nicht an die Ostfront, sondern nach Bologna in Norditalien geschickt. Auch dort sind die Alliierten bereits seit über einem halben Jahr auf dem Vormarsch, zudem setzen immer mehr Partisanen („kommunistische Widerstandskämpfer“) den Deutschen zu. Unter der Führung des berüchtigten Sturmbannführers Reder von der Totenkopf-Division wird Grob Teil einer „Aufklärungsmission“ in das Dorf Marzabotto, die zum schwersten Kriegsverbrechen der Deutschen in Italien werden und als Massaker von Marzabotto traurige Berühmtheit erlangen sollte.
Die Graphic Novel von Philippe Colin (dessen Großonkel Marcel Grob war) und Zeichner Sébastien Goethals verbindet zwei tragische Ereignisse und Begebenheiten des Zweiten Weltkriegs miteinander. Zum einen wird das Schicksal der Elsässer und Lothringer am Beispiel Marcel Grobs geschildert: erst zwangs(einberufen), in der Wehrmacht bzw. der Waffen-SS wegen ihrer Herkunft geringschätzt, dann nach dem Krieg in der Heimat genauso verachtet – schließlich kämpfte man für den Feind – und erst spät rehabilitiert (vgl. Malgré Nous, Band 1, erschienen bei Salleck Publications). Zum anderen ist das Massaker von Marzabotto das zentrale Ereignis des Bandes. Bei diesem Kriegsverbrechen starben 770 Menschen, meist Frauen, Alte und Kinder, gnadenlos niedergemetzelt von der SS. Auch Marcel Grob musste eine Granate eine vollbesetzte Kirche werfen… Nach dem Krieg gab es zwar Verurteilungen – so verbüsste Walter Reder 33 Jahre seiner lebenslangen Strafe, ehe er 1984 frei kam – aber viele der beteiligten SS-Offiziere mussten ihre Strafe nicht antreten oder kamen ungeschoren davon.
Im Schicksal Marcel Grobs wird auch eine besondere Tragik deutlich. War er nur Mitläufer und Mittäter wider willens? Hatte er als kaum geachteter Elsässer noch weniger Alternativen als seine Kameraden? Oder hat er sich als Beteiligter, als einfacher Soldat, an dem Massaker ebenso schuldig gemacht, wie alle anderen? Warum verheimlicht er seine wahren Kriegserlebnisse? Fühlt er sich selbst schuldig? Entschließt er sich dann zur Lebensbeichte, auch um sein Gewissen zu erleichtern? Für Richter Tonelli, der eine persönliche Beziehung zu dem Massaker von Marzabotto hat, ist die Sachlage klar, für Philippe Colin, der seinen Großonkel als gutmütigen Menschen in den Danksagungen erwähnt, ebenso. Der „neutrale“ Leser muss sich dagegen sein eigenes Bild machen. Das Ende der Reise des Marel Grob mag dann so final wie versöhnlich sein…
Der gerne geschilderten allgemeinen schwarz-weiß Sichtweise hinsichtlich der Kriegsdeutschen, die durch die Geschichte Marcel Grobs ohnehin aufgeweicht wird, wirkt auch die Figur des Untersturmführers Brehme entgegen, der erst den jungen Grob unter seine Fittiche nimmt und nach und nach zum väterlichen Freund des Elsässers wird. Brehme ist gebildet und lässt Grob Tschechows „Der Kirschgarten“ lesen. Er ist von seinem politischen Tun überzeugt, ermöglicht aber in Mazzabotto einer jungen Mutter mit ihren Kindern die Flucht. Sébastien Goethals zeichnet seine Rahmenhandlung mit dem alten Marcel Grob zwar realistisch und detailliert, aber betont nüchtern, auch was die Farbgebung betrifft. Ein wenig erinnert der Stil an William Vance‘ „XIII“. Auch die Kriegserlebnisse sind fast monochrom gehalten, wenngleich auch farblich abgestufter und damit fast handkoloriert wirkend. Von Szene zu Szene ändern sich die Farbtöne, ähnlich viragierter Stummfilme. Am Ende des Bandes bietet ein Dossier des Historikers Christian Ingrao geschichtliche Informationen, u.a. zu den Malgré-nous, zur Waffen-SS und zum Massaker von Marzabotto. (bw)
Die Reise des Marcel Grob
Text: Philippe Collin
Bilder: Sébastien Goethals
192 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
29,80 Euro
ISBN: 978-3-96219-320-1