Ein anderes Israel (Splitter)

März 27, 2016

Ein anderes Israel (Splitter)

Nach ‚Terra Australis‘ präsentiert Splitter mit ‚Ein anderes Israel‘ erneut eine Geschichtsstunde. Ging es beim extra dicken Australien-Ziegel um die Besiedlung des fünften Kontinents durch die Engländer, beschäftigt sich Harvey Pekars letzte Graphic Novel mit dem Staat Israel und das Judentum an sich. Ein ehrgeiziges wie kompliziertes Unterfangen, das auf eine völlig andere Art und Weise präsentiert wird. Denn im Gegensatz zu ‚Terra Australis‘, bei dem der Leser mittendrin in der Geschichte und im Geschichtlichen ist, hat das Israel-Buch Pekars eher einen dozierenden Schulbuch-Charakter. Es ist vollgepackt mit Informationen, die jeden Interessierten an der Geschichte des Judentums vollauf befriedigen werden. Aber eben doch ganz anders. Warum das genau so ist, ja so sein muss, erschließt sich dem Leser, wenn man Pekars Vita und seinen künstlerischen Comic-Output kennt.

Denn Harvey Pekar (1939-2010) war nicht nur Autor und Musikkritiker (der stets, auch als er bereits bekannt war, bodenständig blieb und als Aktensortierer in der Verwaltung arbeitete), er begründete auch ein eigenes Comic-Genre, indem er begann, seinen Alltag und sein Leben und das seiner Mitmenschen in Geschichten zu fassen und diese im Comicheft-Format unter dem Titel American Splendor herauszubringen. Dabei übernahm Underground-Ikone und Comicfestival-Fernbleiber Robert Crumb einen Großteil der Zeichnungen, aber auch andere namhafte Künstler, wie Joe Sacco, Alison Bechdel, Eddie Campbell oder Richard Corben trugen zum Erfolg von American Splendor bei. Die Popularität der Reihe gipfelte in einer gleichnamigen Verfilmung mit Paul Giamatti in der Hauptrolle und wurde in Cannes preisgekrönt (die deutsche DVD beinhaltet übrigens einen im Crumb-Stil gezeichnetes Comic-Booklet von Gerhard Schlegel/Laska Comix).

Gemeinsam mit seinem Zeichner JT Waldman verbringt Harvey Pakar einen Tag in seiner Heimatstadt Cleveland mit Recherchen für eine neue Graphic Novel, die das Judentum und den Staat Israel zum Thema haben soll. In Büchereien, Buchläden und Cafes. Dabei erklärt er JT und dem Leser seine erfrischend kritische und sachlich neutrale Sicht auf seine Religion. Pekars Eltern waren Zionisten, wobei nur sein Vater religiös war – seine Mutter war Marxistin. Mit den Jahren wurde seine Einstellung zur Religion und zu Israel immer kritischer, ein Wandel, der von einer ersten Begeisterung für den neugegründeten Staat Israel ausging. Um seine Weltsicht besser verstehen zu können, beginnt Pekar ganz von vorn, bei den Ursprüngen des Judentums, bei Abraham und dem Stück Land, das Gott den Juden versprach und das da lag, wo heute Israel ist. Die Besatzung durch die Römer wird behandelt, die jüdische Diaspora und ein weiter Bogen wird gespannt bis zum Holocaust und der Gründung des Staates Israel. Mit allen Konflikten und Sehnsüchten.

Großes Augenmerk richtet Pekar dabei auf die Beziehungen, das Zusammenleben und die Konflikte mit den Arabern. Auch hier beginnt er ganz von vorne und berichtet über Mohammed und die Begründung der Religion. Hier wird es dann besonders interessant und persönlich. Sehr offen versetzt sich Harvey in die Lage der Palästinenser, deren Heimat praktisch über Nacht zu Israel wurde. Er kritisiert die Besetzung des Westjordanlandes und den dortigen jüdischen Siedlungsbau, wobei sich religiöse Siedler auf die Jahrtausende alte Abraham-Geschichte vom gelobten Land berufen, ungeachtet der Araber, die dort leben. Erstaunlich auch: Israel als Waffenexporteur machte (und macht?) Geschäfte mit asiatischen und afrikanischen Staaten – man belieferte das Apartheids-Regime in Südafrika und verkaufte sogar Rüstungsgüter an den Iran (!). Damit zeigt Pekar, wie wichtig – gerade in der heutigen Zeit – eine nüchterne, verständnisvoll ausgewogene Sicht auf die Dinge ist, auch oder gerade wenn es sich um Religion handelt. Zeichner JT Waldman gelingt es dabei, die trockenen geschichtlichen Fakten grafisch wunderbar in bisweilen ganzseitigen Tableaus und Collagen abwechslungs- und ideenreich aufzubereiten. Somit bietet der Band, der Pekars Vermächtnis darstellt, nicht nur Stoff für das Gehirn, sondern auch was für das Auge. (bw)

Ein anderes Israel
Text: Harvey Pekar
Bilder: JT Waldman, Joyce Brabner
176 Seiten in schwarz-weiß, Hardcover
Splitter Verlag
24,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-238-0

Weitere Comics zum Thema Israel:

– Israel verstehen – in 60 Tagen oder weniger (Sarah Glidden, Panini)
– Aufzeichnungen aus Jerusalem (Guy Delisle, Reprodukt)
Die Stern-Bande (Luca Enoch/Claudio Stassi, Panini)
Das Attentat (Loic Dauvillier/Glen Chapron, Carlsen)
– Palästina/Gaza (Joe Sacco, Edition Moderne)

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