
Tommy ist tot. Schon seit 1993. Ertrunken, mit gerade mal 14 Jahren. Eine Tragödie, von der sich seine Familie, die Pikes, nie erholt haben. Seine Eltern, seine beiden Brüder, seine Schwester. Sie alle schaffen es nicht, Tommys Tod zu verarbeiten. Schon seit Jahrzehnten. Stattdessen lebt Tommy für sie weiter, auf eine gewisse, ganz spezielle Art. Für die gläubige Mutter wurde aus ihm ein Pfarrer, für die Schwester Tara blieb er der kleine Junge, für seinen Bruder Richard wurde er zum virtuellen Saufkumpan. Und sein zweiter Bruder Patrick schrieb einen Bestseller, in dem er mit Hilfe von Tommys Tagebuch den Tod seines Bruders zu verarbeiten suchte.
Nun erleidet der Vater Peter einen Schlaganfall. Die Familie versammelt sich im Elternhaus und am Krankenbett, in der Stadt Royal City. Eine Industriestadt, geprägt von hohen qualmenden Schornsteinen. Nach und nach lernen wir die Familienmitglieder kennen, ihre Sorgen, ihren Charakter: Patti, die Mutter ist religiös, streitet gerne und mit jedem und geht fremd. Patrick laboriert an einer Schreibblockade. Tara macht in Immobilien und will die Fabrik, in der ihr Mann arbeitet – ein Hauptarbeitgeber in der Stadt – dichtmachen lassen. Und Richard wurde zum schwarzen Schaf, brach dem Kontakt mit der Familie ab, verkommen und versoffen, samt Geldschulden…

Klingt alles nicht gerade nach einer lustigen und erheiternden Story. Autor und Zeichner Jeff Lemire (u.a. „Black Hammer“, „Ascender“) zeigt zu Beginn seiner 14-teiligen Serie, die hier in einem dicken Band gesammelt ist, dann auch die inzwischen dysfunktionale Familie Pike in all ihrer zerstrittenen Pracht. Die Gespräche enden in Streitigkeiten und Vorwürfen. Die Ehen scheinen am Ende. Und über allem schwebt Tommy, der tote Sohn und Bruder, der – für den Leser noch leicht verwirrend – in seinen verschiedenen geisthaften Ausprägungen, die freilich allesamt der Fantasie der Familienmitglieder entstammen, erscheint. So steht Tommy stets im Mittelpunkt, ohne anwesend zu sein.
Nach einem Lemire-typischen Paukenschlag, der die Familie Pike erneut komplett verändern wird, wird die Handlung zur Rückblende. Wir sehen den lebenden Tommy als Ich-Erzähler, die Story beleuchtet das Familiengefüge bis zu den Umständen seines Todes. Und wirft damit die Frage auf, wer daran Schuld hat. Oder sich selbst die Schuld gibt. Mit „Royal City“, ab 2017 bei Image Comics erschienen, wollte Autor und Zeichner Jeff Lemire zurück zu seinen Wurzeln. Eine Art Familienchronik schreiben, mit Normalos als Protagonisten, ähnlich wie in seinem „Essex County“ (bei uns in drei Teilen bei Edition 52 erhältlich), das inzwischen als TV-Serie adaptiert wurde.

Die Themen Verlust und Angst sind hier allgegenwärtig. Natürlich in erster Linie durch den Tod von Tommy. Aber auch die Angst vor gescheiterten Beziehungen – es kriselt in jeder einzelnen Pike-Ehe – vor Verlust des Arbeitsplatzes, die Angst vor Veränderung. Keiner schafft es, über seinen Schatten zu springen, seine angestammte Rolle zu verlassen. Erst als eine vermeintlich außenstehende Person ins Leben der Pikes tritt, die damit das Tor zur tragischen Vergangenheit erneut öffnet, dieser eine andere Sichtweise verleiht, und eine versöhnliche Zukunft in Aussicht stellt, fasst die Familie neuen Mut.
Jeff Lemire arbeitet mit wunderbaren, originellen erzählerischen und visuellen Mitteln. Schon das erste Kapitel, in dem die Familienmitglieder jeweils ihre Tommy-Version „vorstellen“, zieht den Leser in seinen Bann und endet mit einem Aha-Effekt. Auch danach wird es nicht langweilig, wenn wir mehr über die Pikes erfahren (wie durch den Kniff mit der virtuellen Reise von Tommy und seinem Vater als eine Art Nahtoderfahrung) und die Story sich dann in der Rückblende auf Tommy konzentriert, nur um dann wieder mit veränderten Vorzeichen in der Gegenwart zu landen. Ganzseitige Tableaus visualisieren die Gefühlslage der Protagonisten, die offenbar direkt kolorierten Zeichnungen kommen gleichzeitig skizzenhaft und voller Details daher. Auch die Aufmachung des Bandes, mit den bedruckten Buchschnitten, weiß zu beeindrucken. Wunderbar. (bw)
Royal City, Kompendium Eins
Text & Bilder: Jeff Lemire
408 Seiten in Farbe, Hardcover
Skinless Crow
49,90 Euro
ISBN: 978-3-03963-044-8