Düstere Zukunftsaussichten: die Welt des Jahres 2052 ist nach dem Dritten Weltkrieg, in den USA (die die Sache gegen China sauber verloren haben) verharmlosend der rote Krieg genannt, abgerutscht, die Wirtschaft siecht vor sich hin, man hat zwar Roboter namens „Wrks“ für die Drecksarbeit, aber die Inflation galoppiert, Häuser verfallen, man wartet endlos auf eine Waschmaschine. Da trifft es sich doch gut, dass man sich das ganze Elend gar nicht erst anschauen muss: denn das Internet ist direkt mit dem menschlichen Geist verbunden, jeder ist permanent online und blickt nur noch per Filter auf die Welt. Diese so genannten „Veils“ legen den jeweils gewünschten Schleier um das Außen: wahlweise erscheint die Welt als Cartoon, als Film Noir, als Fantasy-Umgebung, als Softsexfilmchen, was immer der User wünscht.
Sam Dunes ist da ein Außenseiter: er nutzt als einer der ganz wenigen den teuren Clear-Veil – spricht, er gibt sich die Welt so, wie sie eben ist. Seinen Job als Polizist ist er längst los, der Unfalltod seines kleinen Sohnes Baxter hat nicht nur zur Scheidung von seiner Frau Kendra geführt, sondern auch zu seiner Entlassung aufgrund der Sauferei. Gerade als er einen Schwarzmarkthändler namens Alka 10 beschattet, der verbotene „Black Veils“ auf dem Schwarzmarkt an zahlungskräftige Klientel wie den Serverfarmbetreiber Madders verhökert, erreicht ihn die fürchterliche Nachricht: seine Ex-Frau Kendra hat sich von der Golden Gate Bridge gestürzt. Völlig am Boden zerstört nimmt Dunes in seinem Büro ein Päckchen entgegen, das eine historische Uhr enthält, die er Kendra geschenkt hatte – eingeritzt auf der Rückseite findet sich ihre letzte Botschaft: „Ich wurde ermordet“. Dunes geht auf die Suche und stattet dem Department of Connectivity einen Besuch ab, der Regierungsbehörde, die für die immerwährende Internet-Präsenz sorgt.
In Kendras Unterlagen finden sich Hinweise darauf, dass eine Verbrecherbande namens „1518“, die illegale geteilte Veils in Umlauf bringt, wohl in die Sache verwickelt ist. Dunes konfrontiert die Bande in ihrem Versteck, wird schwer verletzt, bekommt aber vom Anführer Hamelin die Zusicherung, dass man Kendra nichts angetan habe, die wohl selbst einen geteilten Veil in ihren Besitz bringen und hochladen wollte. Die Spur führt schließlich wieder zum Bandenboss Alka 10, der ihm eröffnet, dass Kendra auf der Suche nach dem mysteriösen „What If“-Veil war, den auch Dunes selbst verbotenerweise nutzt, um sich in eine Welt zu versetzen, in der sein Sohn niemals starb, sondern noch bei seinen Eltern lebt. Attackiert von einem seltsamen Doppelgänger, der als der „Gelbäugige“ auf ihn losgeht, setzt Dunes schließlich alles auf eine Karte und springt auch von der Golden Gate Bridge, um das Geheimnis von Kendra zu ergründen…
Vielschreiberling Scott Snyder kommt hier einmal nicht aus der Superhelden- oder Horror-Ecke wie etwa in „We Have Demons“, „Night of the Ghoul“ und „Canary“, sondern schlägt in die durchaus populäre Dystopie-Kerbe. Dass die Welt nur noch als angepasste Version zu sehen ist, das kennen wir in abgewandelter Form aus der Millenniums-definierenden „Matrix“, und dass die Zukunft nicht unbedingt ein güldener Ort sein muss, das erzählen uns alle Anti-Utopien seit den 70ern. Snyders höchst faszinierende Variante des Themas ist allerdings, dass jeder sich einfach seinen eigenen Filter aussucht und die Realität so sieht, wie er/sie sie gerne hätte – Social Media in allen Farben und Formen lassen grüßen (wenn der eine oder andere Post schon mit dem Hashtag „No Filter“ versehen ist, dann wird klar, wie weit die Realitätsverfälschung schon gediehen ist).
Das Film Noir Setting des ex-Cops, der sich aufgrund einer privaten Tragödie als Schnüffler versuchen muss, daraus grüßt die Schwarze Serie, wobei auch hier diverse Twists eingebaut sind (Spoiler ahead): Totgeglaubte leben hier wirklich länger, und der eigene Zynismus des Hard Boiled Helden erweist sich als Heuchelei, da es letztlich dann doch darum geht, der melancholischen Realität in Richtung einer Traumwelt zu entfliehen. Somit ein inhaltlich mehr als komplexes, düsteres Vexierspiel, das in der Story um den verstorbenen Sohn Baxter auch einen gewaltigen emotionalen Gehalt mitbringt.
Francis Manapul (aus dem Top Cow Stall) zieht aus dieser Vorlage alle optischen Register: die verschleierte Realität erscheint überlagernd, in unterschiedlichen Zeichenstilen umgesetzt – auf einer Seite gesellen sich da Funny-Stil, Cartoon, Glam, Blueberry-artige Westernelemente und bunte Fantasy-Welten. Die „reale“ Storyline kredenzt er im eher klassischen Heldenduktus, mit krachigen Action-Szenen und kreativer Überschreitung der Panel-Grenzen. Somit also ein inhaltlich wie optisch herausragendes Beispiel einer Anti-Utopie, die so weit hergeholt gar nicht ist und bei der zu hoffen steht, dass die politische Weltlage nicht wirklich in diese Richtung driftet. (hb)
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Text & Story: Scott Snyder
Bilder: Francis Manapul
160 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
25 Euro
ISBN: 978-3-98721-309-0