Brüssel im Dezember 1916. Der Erste Weltkrieg tobt. Belgien ist von den Deutschen besetzt (und nun „Generalgouvernement“). Spione und Agenten haben Hochsaison. Einer von Ihnen, der Deutsche Otto Klagen, ein Fachmann für Code-Entschlüsselungen, ist für das Reichsheer tätig, arbeitet aber für den britischen Geheimdienst. Er notiert sich heimlich die deutschen Codes, da diese benötigt werden, um ein vermeintlich brisantes Dokument zu entschlüsseln, das vom Deutschen Kaiserreich nach Amerika gesendet werden soll, das von den Briten aber abgefangen wurde. Als ein Mord geschieht, schickt man zur Unterstützung den erfahrenen Agenten Victor Sackville nach Brüssel, der dort seine Verbindungsfrau, die Journalistin Diane Corman trifft. Ihre Aufgabe ist es, den Code der Deutschen sicher außer Landes zu bringen. Ein heikles wie kompliziertes Unterfangen…
Spionage im Ersten Weltkrieg – ein originelles Setting für die Reihe, die bei Lombard zwischen 1986 und 2010 erschien und die dort 23 Bände beinhaltet, welche nun bei uns in acht Integral-Ausgaben zusammengefasst werden – jeweils mit ausführlichem Sekundärpart, wie sich das gehört. Geheimagenten und Spione – da kommen James Bond, ebenfalls ja ein Agent Ihrer Majestät, und diverse Derivate in den Sinn, und natürlich der Kalte Krieg, eine Blütezeit der Spionage in Ost und West. Dass man dieser Kunst auch im Ersten Weltkrieg bereits frönte, zeigen Schicksal und Leben einer gewissen Margaretha Geertruida Zelle, besser bekannt als Mata Hari, die ihre „Nebentätigkeit“ mit dem Leben bezahlte (wie kürzlich im Zack Magazin nachzulesen war).
Aber Victor Sackville ist weder ein James Bond noch ein Verführer. Er agiert zwar bestimmt, aber eher nüchtern und bedacht. Er ist erfahren in seinem Job, aufmerksam, gewieft – all das mit der typisch britischen Contenance und Lässigkeit. Hier wird er zuerst mit einer Tarnidentität als Theater-Regisseur installiert, ehe es ihn gemeinsam mit Diane im zweiten Teil der Story weit weg, nämlich nach Mexiko verschlägt. Dort suchen die beiden nach dem gestohlenen Code und bekommen es wieder mit den Deutschen zu tun, die die mexikanische Regierung gegen die USA auf Linie bringen wollen. Hier nimmt nicht nur der Anteil an Actionsequenzen zu, wir bekommen es auch in von Grüber, der in verschiedenen Verkleidungen und Identitäten auftritt, mit einem veritablen Schurken zu tun – inklusive passender Theatralik.
Der historische Hintergrund dieses ersten Zweiteilers ist die Zimmermann Depesche, eine verschlüsselte Nachricht, die im Januar 1917 an den deutschen Gesandten in Mexiko gerichtet war. Darin schlagen die Deutschen ein Bündnis mit Mexiko vor, falls die noch neutralen USA in den Krieg eintreten. Und genau das taten die Amerikaner, nachdem die Nachricht mit dem entsprechenden Code entschlüsselt werden konnte – hier im Comic unter Mithilfe von Victor und Diane… Auch der dritte Teil in diesem Band fußt auf einem historischen Hintergrund. Im Palästinafeldzug stehen sich 1917 bei Gaza britische und türkische Truppen in einem Patt gegenüber, während in Kairo Engländer und Franzosen noch immer um Einfluss ringen. Und auch die Deutschen, bekanntlich Verbündete der Türken, sind hier zugange und scheuen sich nicht, nationalistische Organisationen für ihre Interessen einzuspannen. An Victor Sackville liegt es nun, einen riskanten Plan umzusetzen, der den Briten in Gaza zum Durchbruch verhelfen soll…
Spionage, Gegenspionage, Agenten, die falsches oder doppeltes Spiel spielen, die sich austricksen und hintergehen, die erst im Laufe der Story ihre Absichten und/oder Identitäten preisgeben. Die Geschichten in diesem ersten Sammelband sind allesamt fein gewoben, clever konstruiert und verströmen damit – auch mit ihrem historischen Kontext – eine gewisse angenehme Komplexität. Viele Dinge und Aspekte der Story werden nur angedeutet. Immer wieder ist der Leser gefordert – was Laune macht. Kompliment an den Verlag, der hier nach Reihen wie „Lou Smog“ und „Nicky Saxx“ eine weitere ungewöhnliche Serie auf dem hiesigen, doch überschaubaren Comicmarkt verfügbar macht, die man vorher nicht unbedingt auf dem Schirm hatte.
Die Zeichnungen des Belgiers Francis Carin, der die komplette Reihe illustriert, erscheinen im besten Sinne altmodisch und damit klassisch franko-belgisch. Sie kommen in einem feinen, detaillierten Strich daher. Ungewöhnlich und gleichzeitig charakteristisch für seinen Stil, vor allem in den ersten beiden Episoden, sind die buschigen Augenbrauen der männlichen Akteure. Die Kolorierung ist gediegen, im ersten Teil winterlich passend, während in der Mexiko Episode die (Haut-) Farben bisweilen etwas blass und damit uneinheitlich erscheinen. Was im dritten Teil wieder stimmig wird, der nun von Luce Leclerq koloriert ist. Eine auf 99 Exemplare limitierte Vorzugsausgabe (siehe oben rechts) mit einem von Francis Carin gezeichnetem und signiertem Exlibris ist ebenfalls erhältlich. Ein vielversprechender Auftakt einer Reihe, an der wir sicher noch viel Freude haben werden. (bw)
Victor Sackville, Integral 1
Text & Story: Gabrielle Borile, François Rivière
Bilder: Francis Carin, Cécile Bertrand & Luce Leclerq (Farben)
168 Seiten in Farbe, Hardcover
Kult Comics
39 Euro
ISBN: 978-3-96430-388-2