H.P. Lovecrafts „Der Schatten aus der Zeit“ (Carlsen)

August 13, 2021

Völlig aus dem Nichts erleidet Professor Peaslee, der an der Miskatonic University in Arkham, Massachusetts, im Jahre 1908 lehrt, eine Art Anfall. Danach ist er ein völlig anderer Mensch. Seine Familie interessiert ihn nicht mehr, er vernachlässigt seine beruflichen und privaten Pflichten und unternimmt unangekündigt lange Reisen in entlegene Gebiete unserer Erde. Fünfeinhalb Jahre geht das so. Dann folgt ein erneuter „Anfall“, nach dem Peaslee wieder der Alte zu sein scheint. Inzwischen hat ihn seine Frau verlassen. Nur sein Sohn Wingate ist bei ihm geblieben. Kurios: Peaslee kann sich die die fünfeinhalb Jahre nicht erinnern. Er weiß nicht mehr, warum er plötzlich andere Sprachen beherrschte, warum und wohin er reiste. Fortan plagen ihn Alpträume. Er träumt von seltsamen Wesen mit Tentakeln, die riesige unterirdische Städte bevölkern. Wesen, die er als die große Rasse von Yith identifiziert. Peaslee sattelt um, wird Psychologe und versucht seine verlorenen Jahre zu erforschen. Er fasst seine Träume in wissenschaftliche Abhandlungen. So vergehen Jahrzehnte. Bis ihn 1934 ein Brief aus Down Under erreicht. Darin schildert ein Bergbauingenieur, dass er in der Wüste Australiens Ruinen gesehen hat, wie sie Peaslee in seinen Arbeiten beschreibt…

H.P. Lovecrafts Erzählung „The Shadow out of Time“ entstand 1934/1935, also gut zwei Jahre vor seinem Tod. Das Motiv der Übernahme eines menschlichen Körpers durch ein Alien, das Jack Finney 20 Jahre später in „The Body Snatchers“ intensiv thematisieren sollte, ist hier im Prinzip friedlicher Art, hinterlässt aber bei dem Betroffenen, Professor Peaslee, tiefe Spuren, die sich in seinen apokalyptischen Träumen manifestieren. Und ist damit Auslöser der eigentlichen Geschichte. Die Alienrasse der Yith kann sich durch die Zeit bewegen und ist an keine bestimmten Körper gebunden. Hier werden sie als kegelförmige Wesen mit Glupschaugen und Tentakeln dargestellt (angelehnt an das Titelbild des Pulp-Magazins „Astounding Stories“, wo die Geschichte 1936 erstveröffentlicht wurde). Über den Umweg der Yith, deren seit Jahrmillionen vergangene Zivilisation Peaslee erforschen will, gelangt die Handlung schließlich zu Lovecrafts Lieblingsthema – die großen Alten, die von den Yith seinerseits besiegt und verbannt wurden. Als Expeditionsteilnehmer und gleichzeitig Mahner tritt hier übrigens Professor Dyer auf, den wir bereits in „Berge des Wahnsinns“ kennen gelernt haben.

„Der Schatten aus der Zeit“ ist bereits der sechste Band mit Adaptionen von Werken Lovecrafts, die von dem 1975 in Tokio geborenen Mangaka Gou Tanabe in Szene gesetzt wurden (der Nachfolger, „Cthulhus Ruf“, ist ebenfalls schon erhältlich). Die Reihe wurde übrigens 2020 auf dem berühmten Comicfestival in Angoulême als beste Serie ausgezeichnet. Leser und Leserinnen sind hier stets besser informiert als die Hauptfigur Peaslee, der sich Jahrzehnte lang über seine „verlorenen Jahre“ im Unklaren ist. Grund sind die finsteren, oft doppelseitigen Darstellungen Gou Tanabes, in der die Yith und ihre „Stadt“ alptraumhaft fremd, bedrohlich und gleichzeitig phantasievoll und äußerst detailliert gezeigt werden, selbst in schwarze Seitenränder getaucht und mit relativ wenig Text versehen. So fiebert man mit Professor Peaslee bei dessen Suche nach der Wahrheit, bis er schließlich jenen Ort leibhaftig und trotz aller Gefahren betreten kann, mit wachem Geist, auf den Spuren seiner eigenen Vergangenheit. Dabei werden die 368 Seiten nie langweilig und ermöglichen einmal mehr einen faszinierend bebilderten Einblick in die Horror- und Science Fiction-Welten des Kultautors Lovecraft. (bw)

H.P. Lovecrafts „Der Schatten aus der Zeit“
Text & Bilder: Gou Tanabe
368 Seiten, Hardcover
Carlsen Verlag
22 Euro

ISBN: 978-3-551-72830-2

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