Auferstanden aus Ruinen… das gilt auch für Konrad und Andreas Werner, die es irgendwie geschafft haben, als jüdische Kinder im zerbombten Berlin zu überleben. Gegen Kriegsende verschlägt es die beiden, deren Eltern im KZ umgebracht wurden, nach Leipzig, wo sie einige Jahre in einer schäbigen Wohnung hausen und dort den Aufstand vom 17. Juni 1953 miterleben. Während einer Notlage werden sie rekrutiert, indoktriniert und arbeiten fortan für die Staatssicherheit. Dort steigen sie auf, erhalten immer anspruchsvollere Aufträge. Schließlich – zum ersten Mal in ihrem Leben – werden die Brüder getrennt. Während Konrad, der Ältere der beiden, auf den der Führungsoffizier Oberst Gronau größere Stücke hält, in den Westen als „Maulwurf“ geschickt wird, bleibt Andreas in der DDR, wo er als Physiotherapeut die Sportler des eigenen Landes ausspionieren soll, um etwaigen Republikfluchten vorzubeugen. Jahre später, als 1974 während der Fußball-WM in Hamburg das Spiel der Bundesrepublik gegen die DDR ansteht, treffen sich die Brüder wieder. Auf gegnerischen Seiten und doch für eine Sache eintretend. Der eine als Betreuer der Schön-Elf, der andere als Masseur des DDR-Teams…
Die beiden Franzosen Philippe Collin (Autor) und Sébastien Goethals (Zeichner) behandeln nach „Die Reise des Marcel Grob“ in ihrer neuen Graphic Novel wieder ein Stück unrühmlicher und glücklicherweise abgeschlossener Deutscher Geschichte. Grundlage ist das einzige Länderspiel zwischen den beiden deutschen Staaten, das im Rahmen der WM am 22. Juni 1974 im Hamburger Volksparkstadion stattfand. Und das die DDR bekanntlich durch ein Tor von Jürgen Sparwasser mit 1:0 für sich entschied – zur Überraschung aller. Das Spiel dient als Hauptschauplatz rund um den Höhepunkt der fiktiven Geschichte der beiden Brüder, die wie so viele Kinder als Kriegswaisen aufwuchsen. In den ersten Jahren unzertrennlich, wird Konrad schließlich als linientreuer erachtet, erhält dadurch seinen „West-Job“ und gehört zum Stab der bundesrepublikanischen Nationalmannschaft um Beckenbauer und Co. Andreas, der impulsiv ist und immer wieder mit dem Sozialismus hadert, muss im Osten bleiben. Als sich die beiden nach zwölf Jahren in Hamburg wiedersehen (Andreas gehört zur Delegation der DDR), spitzen sich die Zweifel des Jüngeren zu, während Konrad, der im Westen alle Annehmlichkeiten genießt und sogar eine Familie gründete, noch immer auf die Vorzüge der DDR pocht. Eine feine Ironie.
Der Band bleibt dabei sehr vielschichtig. Anfangs schildert er in Episoden die Kinder- und Jugendjahre der Brüder, setzt sich dabei mit deren jüdischem Glauben auseinander – in Verbindung/Vereinbarung mit dem sozialistischen Staatsapparat. Wichtige historische Ereignisse werden gestreift, so der Volksaufstand 1953 oder der Mauerbau 1961. Dann richtet sich langsam der Fokus auf die Spieler, bzw. das Spiel, das zum Kampf der Systeme erkoren wird. Wir erfahren, dass Paul Breitner (nicht nur) innerhalb der Mannschaft eine Kontroverse um die Geldprämien losgetreten hat, er ist sich auch mit Beckenbauer alles andere als grün (und wird zudem von dem intriganten Konrad heimlich mit Rotwein versorgt). Auf der andern Seite begleiten wir Andreas bei einem heimlichen und natürlich mit Hintergedanken inszenierten Ausflug mit Jürgen Sparwasser in das Hamburger Nachtleben, das für den späteren Torschützen nicht ohne Folgen bleibt, da er danach die perfiden Stasi-Methoden am eigenen Leib spüren sollte – als potentieller Überwacher seines Überwachers.
Dann stehen unvermittelt die Brüder wieder im Vordergrund, die sich erst unerlaubt treffen – erstmals nach zwölf Jahren – später dann offiziell. Mit anschließenden verheerenden Folgen für einen von ihnen – inklusive etwas Interpretationsspielraum. Das Ende, wie schon bei „Die Reise des Marcel Grob“, kann versöhnlich verstanden werden. Oder auch nicht. Das bleibt erneut dem Leser überlassen. So wie Konrad und Andreas die jeweiligen Mannschaften infiltrieren, infiltrieren die Autoren die reale Historie mit der fiktiven Brüdergeschichte. Zeichner Sébastien Goethals bleibt dabei seinem realistischen Stil treu – so kann man die Konterfeis der Spieler jederzeit identifizieren – und arbeitet wieder mit monochromen Farbabstufungen, mit denen er die Seiten, bzw. die Szenen „koloriert“, was an viragierte Stummfilme erinnert. Letztendlich blieb der Sieg der DDR für diese ein Sieg des Sozialismus über den Klassenfeind (man hoffte auf einen nationalen Effekt wie weiland beim BRD-Sieg über die Ungarn), für die Bundesrepublik wurde das Spiel letztlich zur Randnotiz, ein Ärgernis zwar, das durch den Gewinn der Weltmeisterschaft dann mehr als ausgewetzt wurde. Und Jürgen Sparwasser machte 1988 dennoch rüber… (bw)
Das Spiel der Brüder Werner
Text: Philippe Collin
Bilder: Sébastien Goethals
152 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
25 Euro
ISBN: 978-3-96219-544-1