Poison City, Band 1 (Carlsen)

August 24, 2017

Mangaka Mikio Hibino kann es kaum fassen. Nach reihenweise Ablehnungen schafft er es tatsächlich, Tadamine Higa, Redakteur des Manga-Heftes „Young Junk“, zu begeistern: Higa will seine Horror-Serie „Dark Walker“ ins Magazin aufnehmen. Entzückt eilt Mikio nach Hause und wird dort Zeuge einer geisterhaften Szene: ein aufgebrachter Mob, der sich „Säuberungsfront“ nennt, demoliert eine Statue, die man offenkundig für unzüchtig hält. Bald zieht sich dieses Netz der angeblich moralischen Empörung immer enger: ein hochkarätig besetzter Kulturausschuss legt seine Kompetenzen zur Umsetzung des „Schriftenbereinigungsgesetzes“ drakonisch aus und setzt immer mehr Mangas auf schwarze Listen. Alles, was auch nur ansatzweise Gewalt, Erotik oder andere angebliche jugendgefährdende Züge aufweist, wird als „kritisch“ oder gleich „schädlich“ eingestuft und darf nur noch unter dem Ladentisch verkauft werden, was letztlich das kommerzielle Aus bedeutet. Auch „Young Junk“ wird bald von der Zensur erfasst, woraufhin Higa seinen jungen Künstler auffordert, deutliche Änderungen an seinem Projekt anzubringen.

Aber es ist schon zu spät: die erste Nummer von „Dark Walker“ ist kaum erschienen, da bekommt der Verlag einen Brief des ehemaligen Kultusministers Osamu Furudera, mittlerweile Kopf des Kulturausschusses, der sich über die angeblich menschenverachtende Darstellung empört. Der Verlag reagiert prompt und zieht alle Nummern aus dem Handel zurück. Hibino ist am Boden zerstört und besucht den legendären Mangaka Shingo Matsumoto, dessen Geschichte auch im eingestampften Heft enthalten war. Er trifft einen desillusionierten, manipulierten Ex-Künstler, der sich dem System unterworfen hat: alle Mangas werden nur noch von Autorenteams verfasst, um ja keine kreative Auswüchse zuzulassen; Matsumoto paust nur noch Fotos von realen Personen ab, um auch in der Darstellung kein Risiko einzugehen. Für Hibino scheint es allerdings in Form einer Internet-Veröffentlichung vielleicht noch Rettung zu geben – und in Form des US-Verlegers Alfred Brown, der „Dark Walker“ für sein Kamikaze-Manga-Magazin übersetzen und herausbringen will…

Ein ratloser Hibino

Tetsuya Tsutsui packt hier das ebenso brandheiße wie uralte Thema Kunst versus Zensur an. Die Frage, ob Kunst oder auch populäre Kultur für gesellschaftliche Entwicklungen verantwortlich sind oder sie nur spiegeln, beschäftigt Sozialwissenschaftler, Journaille, Politik und die breite Öffentlichkeit seit Jahrhunderten. Kaum geschieht eine Gräueltat, wird umgehend nach Hinweisen auf Horrorfilme/comics, Ballerspiele und gerne auch Heavy Metal gesucht, da diese geschmacklichen Verirrungen als probate Erklärung für Entgleisungen aller Art herhalten müssen. Umgekehrt muss aber auch die Frage erlaubt sein, ob unter dem Deckmantel der künstlerischen Freiheit wirklich alles erlaubt sein muss und etwa makabre Ausstellungen von konservierten Körperteilen mehr sind als nur sensationalistische Effekt- und Eintrittsgeld-Hascherei. Tsutsui darf man hierbei durchaus als gebranntes Kind bezeichnen, der die hier dargestellte Zensur am eigenen Leibe erfahren hat: sein Manga „Manhole“ wurde von der Präfektur Nagasaki schon 2009 ohne sein Wissen als jugendgefährdend eingestuft und aus dem Handel genommen. Erst 2013 erfuhr Tsutsui von der Indizierung, die im Rahmen einer bestenfalls kursorischen Bewertung durch eine „Kommission für Erziehung und Schutz Minderjähriger“ erfolgt war und auf teilweise vollkommen unverständlichen Bewertungen harmloser Szenen beruhte.

So scheint seine Vision eines Tokyos im Jahr 2020, das sich auf die bevorstehenden olympischen Spiele vorbereitet, nicht so entlegen, wie dies im ersten Moment vielleicht aussieht: nicht umsonst verweist Alfred Brown den jungen Hibino auf den Comics Code, die freiwillige Selbstzensur, die durch Fredric Werthams pseudowissenschaftliche Hetzschrift „Seduction Of The Innocent“ von 1954 ausgelöst wurde. Werthams Kernthese – Comics verherrlichen Gewalt und führen so zur Verrohung der Jugend – stürzte die gesamte US-Comicindustrie Mitte der 50er Jahre in eine schwere Krise, ganze Sammlungen wurden öffentlich verbrannt, jegliche Darstellung von Verbrechen, Erotik oder Gewalt war auf Jahrzehnte verpönt. Stellvertretend für diese Entwicklung steht das Schicksal des Mangaka Matsumoto: einst ein gefeierter Star mit sozialkritischen Anliegen, hat er sich vollständig an den bigotten Puritanismus angepasst und bezeichnet sich folgerichtigerweise nur noch als Inker, der mit seiner industriellen Produktionsweise Geld verdient.

Die Rahmenhandlung – das Tokyo des Jahres 2020 bereitet sich auf die Ausrichtung der olympischen Spiele vor – wirkt dabei ein wenig bemüht, die Ausführungen des US-Verlegers ein wenig oberlehrerhaft, die Motivation des ex-Kultusministers etwas konstruiert, aber die Integration der Fiktion in der Fiktion überzeugt umso mehr: die Handlung von „Dark Walker“ entfaltet sich teilweise parallel zur eigentlichen Geschichte und dient – optisch durch eigenes Lettering abgesetzt – als Referenz und Kommentar auf das Geschehen, wodurch das entsteht, was Shakespeare gerne als „play within the play“ einsetzte. So entsteht ein spannender Denkanstoß, dessen Auslegung im Sinne Tsutsuis eindeutig sein dürfte (Kampf jeder Zensur!), zu dem sich allerdings durchaus jeder seine Meinung bilden darf – immerhin darf die Frage gestellt werden, ob in jedem Tatort wirklich heftigerer Tobak enthalten sein muss als in allen Ab 18-Action-Vehikeln der 80er zusammen. Komplexe Gemengelage, gute Aufbereitung – und einladend für eine differenzierte Betrachtung. Der abschließende Band 2 ist ebenfalls bereits zu haben. (hb)

Poison City, Band 1
Text & Bilder: Tetsuya Tsutsui
244 Seiten in schwarz-weiß, Taschenbuch
Carlsen Verlag
7,99 Euro

ISBN: 978-3-551-71477-0

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