Der Treck (Jacoby & Stuart)

Juli 20, 2016

Der Treck (Jacoby & Stuart)

Montpellier 1975. Angelita trifft sich zum wiederholten Male mit dem Chefbuchhalter ihrer Firma. Zu Hause sagt sie, sie müsse lange arbeiten. Denn von ihrem Mann, einem Französischlehrer, und ihrem festgefahrenen Leben entfremdet sie sich zusehends. Dass dieses Auseinanderdriften durchaus in Verletzungen der Vergangenheit begründet ist, zeigt sich, als sie einen dringenden Anruf erhält. Ihre Mutter Julia hat einen Herzanfall erlitten und liegt in Barcelona im Krankenhaus – obwohl sie doch eigentlich geschworen hatte, nie mehr spanischen Boden zu betreten, so lange Franco am Leben ist. Mit ihrem Stiefvater René macht sich Angelita per Zug sofort auf den Weg nach Barcelona und erzählt die erschütternde Familiengeschichte: während des Kriegsjahres 1938 wird Spanien von der faschistischen Machtstreben Francos zerrüttet. Ständige Bombardements der italienischen Gesinnungsgenossen unter der Führung Mussolinis erschüttern die Städte, bis 1939 schließlich ein Flüchtlingsstrom nach Frankreich aufbricht.

Zu Fuß erreicht auch die Familie Angelitas die Grenze, wo allerdings eine schreckliche Entscheidung wartet: in den französischen Flüchtlingslagern werden Männer und Frauen konsequent getrennt. Angelitas Vater verabschiedet sich schweren Herzens von seinen Lieben und verspricht, sie möglichst bald zu suchen – das aber bleibt ein frommer Wunsch. Angelita und ihre Mutter müssen unter menschenunwürdigen Bedingungen unter freiem Himmel am Strand kampieren, erst Monate später errichtet man notdürftige Barracken für die Frauen und Kinder. Gleichzeitig bieten die Franzosen einen perfiden Deal an: wer nach Spanien zurückkehrt, den belohnt man mit einer Familienzusammenführung. Die Männer indessen gehören zu den ersten, die von den neuen Besatzern deportiert werden: so landet auch Angelitas Vater 1940 über Angoulême schließlich im Konzentrationslager Mauthausen, zusammen mit 927 anderen Spanienflüchtlingen, von denen nur wenige die Strapazen überleben…

Aktueller, beklemmender und beeindruckender kann ein Comicroman kaum sein. Eduard Torrents („Sherlock Holmes Society“, im Splitter Verlag) und Denis Lapière ( u.a. „Die schwarze Seite“, „Mauro Caldi“, beides bei Salleck erschienen) greifen eine kaum bekannte Episode des zweiten Weltkriegs heraus (wie dies Thierry Gloris und Marie Terray in „Malgré Nous“ ebenfalls taten, wo es um zwangsrekrutierte Elsässer geht) und schildern in paralleler Handlungsführung mit Rückblicken aus Sicht des verängstigten Kindes Angelita, das die Welt nicht mehr versteht, die ganze Unmenschlichkeit und auch Entmenschlichung, die Krieg und Flucht mit sich bringen. In den Lagern herrschen Hunger und Verbrechen, Hoffnungslosigkeit macht sich breit, und der Schachzug der Franzosen, um die ungewollten Gäste wieder loszuwerden, zeugt von kaltblütigem Kalkül. Die zerrissenen Familienbande hinterlassen tiefe Spuren, die auch mehr als 30 Jahre danach nicht verheilen, sondern im Moment der Konfrontation erst recht wieder aufbrechen und die Bindungsangst und emotionale Vereinsamung bis ins Erwachsenenleben begründen.

Überraschungen halten die Enthüllungen auch bereit, als die Ereignisse eine durchaus unerwartete Wendung nehmen und Angelita erfahren muss, dass nicht alles so war, wie es ihr schien, und dass ihr unbändiger Drang, ihr Leben neu auszurichten, unbewusst der Mutter nacheifert. So trifft Historie auf private Verstrickung in höchst dramatischer Weise. Die Bilder vor allem der Rückblende-Szenen sind stilisiert, farblich abgestimmt, atmosphärisch und transportieren die Einsamkeit und Verzweiflung in kongenialer Form. Somit entsteht eine zutiefst berührende, erschütternde Familiengeschichte, die stellvertretend für eine halbe Million Schicksale steht und vor allem heute leider immer noch wichtige Denkanstöße liefert. (hb)

Der Treck
Text: Denis Lapière
Bilder: Eduard Torrents
124 Seiten in Farbe, Hardcover
Jacoby & Stuart
24 Euro

ISBN: 978-3-941787-94-0

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