
„Jerusalem is lost“ sang einst der irische Barde Chris de Burgh in seinem monumentalen „Crusader“ über die Eroberung der heiligen Stadt durch Saladin und seine Sarazenen im Jahr 1187 – auch Ridley Scotts „Königreich der Himmel“ kündet von diesem Ereignis. Wieder einmal wurde Jerusalem eingenommen – jene heilige Stadt, Zentrum dreier Weltreligionen, die schon damals auf eine mehrtausendjährige Geschichte zurückblicken konnte. Diese Geschichte, soweit bekannt und belegt, wird in dieser Graphic Novel nun erzählt. Akribisch und detailliert. Und zwar aus der Sicht eines Olivenbaums, der auf dem Ölberg wächst (siehe auch das Cover des Bandes), der so alt ist wie die Stadt selbst und der daher ein Augenzeuge ihrer Geschichte darstellt. Ein origineller wie gelungener Kniff der Autoren.
Der Band mit seinen zehn Kapiteln geht chronologisch vor und beginnt somit mit dem Anfang. Die Lage der frühen Siedlung bot eigentlich kaum günstige Voraussetzungen für die Entwicklung zu einer blühenden Metropole: das Gelände hügelig und unzugänglich, die Wasserversorgung mangelhaft und nur wenige Anbauflächen. Um 1800 vor Christus dann die älteste bekannte schriftliche Erwähnung. Als König Salomo den Tempel bauen ließ, machte er die Stadt erstmals zu einem religiösen Zentrum, bis der babylonische König Nebukadnezar Stadt und Tempel eroberte und zerstörte. Das war 586 vor unserer Zeitrechnung. Danach besuchte Alexander der Große Jerusalem, und Griechen und Römer übten großen – auch kulturellen – Einfluss auf die Stadt aus, die dann durch Herodes und seine Bauvorhaben wieder zu Wohlstand kam.
Die Graphic Novel schildert dabei die historischen Abläufe und Geschehnisse sorgfältig und aufs Genaueste. Verantwortlich dafür ist der französische Historiker Vincent Lemire, dessen Spezialgebiet die Geschichte Jerusalems ist und der darüber auch bereits diverse Werke verfasst hat. Außerdem war er Leiter des dortigen französischen Forschungszentrums. Geht es um Jerusalem, geht es auch um die Weltreligionen. So schildert Lemire, woraus die Riten und Gebräuche des Christentums entstanden (Stichwort Sonntag), wie auch dessen heilige Stätten. Danach ist der Islam an der Reihe, der sich ab etwa Mitte des siebten Jahrhunderts in der Stadt etablierte und der ebenfalls jüdische Überlieferungen neu interpretierte.

Ein weiteres einschneidendes Kapitel ist die Zeit der Kreuzzüge: die Christen, die ab 1099 die Stadt belagern, dann erobern und ein Blutbad anrichten. Später sind wir wieder bei Saladin, der nach 88 Jahren die christliche Herrschaft über die Stadt friedlich beendete. Auch im Band berücksichtigt sind Reisebeschreibungen und Berichte von frühen Pilgern und „Touristen“, die auch vom Zusammenleben der verschiedenen Religionsgemeinschaften berichten. Außerdem lässt Autor Lemire seiner Figuren immer wieder Bibelstellen zitieren und er führt historische Quellen an (am Ende des Bandes findet sich eine beeindruckendes Quellen- und Literatur-Verzeichnis).
Natürlich wird auch die Neuzeit thematisiert, in der die Stadt ab 1800 wieder langsam in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rückt, auch bedingt durch die wachsende Begeisterung der Europäer für den Orient. Zahlreiche europäische Staaten eröffnen Konsulate. Prominente Besucher wie Gustave Flaubert, Herman Melville oder Mark Twain schreiben ihre Eindrücke von Jerusalem nieder. Schließlich das Aufkommen des Zionismus durch Theodor Herzl, später die Gründung des Staates Israel, die Teilung Jerusalems und damit verbunden das köchelnde Zusammenleben der Religionen, das auch friedlich sein kann, das aber leider oft geprägt ist durch Konflikte, durch Gewalt und Gegengewalt, wobei sich die Parteien bei ihrem Tun gerne auf Jahrtausende alte Geschehnisse berufen.

Der Zeichenstil von Christophe Gaultier (er zeichnete auch einen „Donjon“-Band, auf Deutsch bei Reprodukt) ist zweckmäßig, skizzenhaft und damit relativ einfach gehalten, wobei seine Illustrationen nie langweilig geraten und ihre Stärken in den Stadtansichten haben. Es war sicher nicht einfach, sich zu jedem geschichtlichen Fakt und jeder historischen Person das geeignete Motiv einfallen zu lassen. Somit vermittelt die Graphic Novel, die in sechs Jahren entstand und die in Frankreich ein Besteller ist, eine intensive, neutrale Geschichtsstunde mit einem hohen Informationsgehalt. Die Brisanz jedoch bleibt: so wurde die geplante Buchvorstellung in Berlin mit Vincent Lemire und den Verlegern kurzfristig und zum Unverständnis des Autors gecancelt, nachdem der Grünen-Politiker Volker Beck, auch Präsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, seine Teilnahme abgesagt hatte… (bw)
Jerusalem – Die Geschichte einer Stadt
Text & Story: Vincent Lemire
Bilder: Christophe Gaultier, Marie Galopin (Farben)
256 Seiten in Farbe, Hardcover
Verlag Jacoby & Stuart
32 Euro
ISBN: 978-3-96428-240-8