Nicht allzu fern in der Zukunft: Amerika ist der perfekte Überwachungsstaat, die Bevölkerung fühlt sich wohlbehütet und macht das Spiel gerne mit. Die früheren Helden sind in der Versenkung verschwunden: gealtert und desillusioniert, treffen sich Steve Rogers (aus dessen Körper das Superserum längst gewichen ist), Matt Murdock und Luke Cage (immer nur unverwundbar, aber ebenso unbeweglich) und sprechen über die alten Zeiten. Am schicksalhaften „H-Day“ wurde die Geheimidentität aller Helden enttarnt, ein von Ultron gesteuerter rasender Hulk setzte zur allgemeinen Zerstörung an, die Stimmung kippte, die meisten Helden starben in einem apokalyptischen Kampf.
Das will Luke Cage nicht länger hinnehmen: kurzerhand kidnappt er Steve Rogers und bringt ihn in ein Safe House seiner Defenders, die als Guerilla-Truppe im Untergrund agieren. Sein Ziel: mit einer ordentlichen Ladung Superserum kommt Steve wieder zu Kräften und soll im Kampf gegen die Regierung, die brav linientreuen Shield und auch gegen diejenigen Vasallen antreten, die mittlerweile als Avengers scheinbar im Dienste der USA unterwegs sind. Ein erster Versuch scheitert grandios, ruft aber Tony Starks Sohn James auf den Plan, der zusammen mit dem Bruder von Jarvis die Strippen als Waffenlieferant zieht.
Als man erfährt, dass Tony Stark selbst den H-Day überlebt hat und auf dem Raft gefangen gehalten wird, bricht Steve Rogers in voller Captain America-Montur in das ehemalige Hochsicherheitsgefängnis ein – und schafft es tatsächlich, Tony zu befreien, nachdem Thor und Ms. Marvel seine Hilferufe gehört haben. Daraufhin lassen die wahren Machthaber die Masken fallen: hinter Jarvis steckt niemand anders als Red Skull, der den H-Day inszeniert hat, um die Macht endgültig an sich zu reißen – worauf Steve Rogers endgültig den alten Schlachtruf „Rächer sammeln“ wiederbelebt…
In dieser finsteren Dystopie liefert Chip Zdarsky gewissermaßen die Marvel-Variante eines Meilensteins aus dem „anderen“ Helden-Universum: so wie Frank Miller in seinem „Dark Knight Returns“ die DC-Welt in eine düstere Zukunft führte, in der die Helden abgetakelt und derangiert gegen die allgegenwärtige Staatsmacht kämpfen, so tritt hier die Verkörperung des amerikanischen Patriotismus schlechthin ausgerechnet gegen seine eigene Heimat an. Dass Caps flammender Appell an die Freiheitsliebe des Volkes vollkommen ungehört verhallt, unterlegt das Geschehen mit besonderer Bitterkeit: man ist zufrieden, es geht ja gut, was soll das also mit der ganzen Politik.
Red Skull manipuliert die Massen schon seit geraumer Zeit, der Staatsstreich ist eigentlich schon vollzogen und kulminiert in einem Sturm aufs Weiße Haus und Capitol. Die Parallelen zu den Ereignissen rund um einen fragwürdigen demnächst wieder-Präsident der USA sind überdeutlich und dürften kurz vor der Wahl, als die Reihe erschien, kein Zufall sein: „Ich habe Euch besiegt, indem ich Deinen werten Amerikanern das gegeben habe, was sie immer wollten. Wohlstand durch Ignoranz. Scheuklappen für das Leid anderer, für Amerikas globalen militaristischen Verrat. Sie glauben, was ich ihnen sage, weil ihre Gläser voll sind!“
Dieser Avatar des populistischen Despoten geht gezielt bilderbuchartig vor und lenkt die Meinung gegen die als schwach verunglimpften Regierenden: „Red Skull hat die Kontrolle über Militär und Polizei übernommen. Er nimmt sie gezielt ins Visier und füttert sie mit Lügen und Propaganda. Computergenerierte Reporter und Avengers. Sie sollen glauben, dass sie das Land vor einem Schurkenpräsidenten retten…“ Näher an der Realität kann man nicht segeln – wobei eben nur ein Cap fehlt, der mit alten Freunden die Fahne der wahren Freiheit hochhält, wobei es weitere schöne Referenzen an den Dark Knight gibt (statt eines weiblichen Robins ist eine junge Dame als Hawkeye mit von der Partie, Steve Rogers sinniert darüber, ob seine alten Knochen das alles noch hergeben, statt eines marionettenhaften Superman nutzt Red Skull den neuen Iron Man als Handlanger).
Optisch inszeniert Daniel Acuña das Geschehen passend apokalyptisch, durchaus nahe an der Physiognomie eines Jack Kirby, gewürzt mit Referenzen an den US-Maler Edward Hopper, der in den 1920ern und 30ern den Realismus prägte. Ein mehr als gewichtiges und unbedingt relevantes, heftiges Werk, das im Original in sechs Heften 2024 erschien und spätestens seit den politischen Weichenstellungen jenseits des Atlantiks mit Brisanz aufgeladen wurde. Neben der Softcover-Ausgabe bietet der Verlag auch eine auf 222 Exemplare limitierte Hardcover-Variante an. (hb)
Avengers: Twilight – Schattenkrieger
Text & Story: Chip Zdarsky
Bilder: Daniel Acuña
200 Seiten in Farbe, Softcover
Panini Comics
25 Euro
ISBN: 978-3-7416-3896-1