Alice Guy (Splitter)

Juli 21, 2023
Alice Guy - Die erste Filmregisseurin der Welt (Splitter Verlag)

Sicher, allround-Erfinder Edison erdachte das Kinetoskop (einen Film-Guckkasten) und auch in anderen Ländern – so auch in Deutschland – gab es Filmpioniere. Die Zeit war einfach reif für die sogenannte siebte Kunst. Aber der eigentliche Urknall des Kinos fand in Frankreich statt. Als Geburtsstunde gilt gemeinhin die erste öffentliche Filmvorführung der Brüder Lumière am 28. Dezember 1895 in Paris (wobei die Brüder Skladanowsky in Berlin gut zwei Monate vorher schon Filme gegen Bezahlung zeigten, aber deren System, das Bioscop, war voller Mängel und konnte sich letztendlich nicht durchsetzen). Namen wie Lumiére, Méliès, Gaumont, vielleicht sogar Louis Feuillarde, sind Freunden des frühen Kinos vertraut. Bei einer Frau, die mittendrin war im Pionier-Geschehen, ja dieses sogar maßgeblich mitgestaltete und beeinflusste, verhält sich das anders. Denn Alice Guy, die nach ihrer Heirat Alice Guy-Blaché hieß, kennt heutzutage kaum jemand mehr.

In ihrer neuesten, wieder umfassenden Arbeit (nach „Kiki de Montparnasse“ und „Die Frau ist frei geboren“) wollen Autor José-Louis Bocquet und Zeichnerin Catel (Muller) ihren Anteil leisten, das zu ändern, um Alice Guy so ihren rechtmäßigen Platz in der Filmgeschichte zurückzugeben. Und zeigen was die Regisseurin auf dem und dann auch im Kasten hatte. Die Verdienste und Pioniertaten der Dame umreist Sven Jachmann bereits in seinem Vorwort: die erste Filmregisseurin sowieso. Der erste Film mit Spielhandlung („La Fée aux Choux“ von 1896, Länge 1 Minute), der erste Monumentalfilm („La Vie du Christ“ von 1906, gleichzeitig auch der erste Episodenfilm mit damals unerhörten 33 Minuten Spieldauer insgesamt), erfolgreiche Experimente mit dem Tonfilm (Phonoszenen) und dem Farbfilm. Und das alles noch vor ihrer nicht minder steilen und erfolgreichen Karriere in Amerika, wo sie mit Solax in Fort Lee (das Zentrum der US-Filmindustrie vor Hollywood) ab 1910 eine eigene Filmgesellschaft samt Studio gründen wird…

Akribisch schildern Bocquet und Catel in großzügig gestalteten Panels den einmaligen Werdegang von Alice Guy, beginnend in ihrer Kindheit in Chile und in diversen Internaten. Dann ihren ersten richtigen Job als Schreibkraft in einem Fachgeschäft für Photographie, das schließlich von Léon Gaumont übernommen wurde, der sich fortan dem bewegten Bild verschreibt. Gaumont ist offen für Alices Ideen, was Filme betrifft (sofern sie vorher ihre eigentliche Arbeit macht, versteht sich), eine Mischung aus Chef, Gönner und Financier. Bald steht sie selbst hinter der Kamera und dreht nicht mehr Alltags-, sondern Spielszenen (Filme sollen Träume wecken, wie George Méliès ihr einmal gegenüber erwähnt) und steigt schließlich zur Produktionsleiterin der Firma Gaumont auf. In den ersten sechs Jahren inszeniert sie etwa 200 Filme!

Nachdem sie mit ihrem (Kamera-) Mann Herbert Blaché in die USA geht, werden die Schritte zwischen den einzelnen Kapiteln größer, vielleicht auch weil ihr Wirken und Leben dort besser dokumentiert sein mag. Das Buch zeigt auch anschaulich an der Arbeit von Alice, wie schnell Film und Kino damals wuchsen. Von kurzen einminütigen Szenen mit naiver Spielhandlung und Laiendarstellern (wer halt gerade so verfügbar war und Lust hatte) bis – nur wenige Jahre später – zu komplexeren Werken, die aus mehreren Akten bestanden (u.a. verfolgen wir die Dreharbeiten zu einer Poe Verfilmung) mit aufwändigen Sets in richtigen Studios und schon namhaften Schauspielern. Auch in den USA war Alice noch ehrgeizig wie experimentierfreudig. So besetzte sie einen Film mit Afroamerikanern, statt wie damals üblich mit Weißen, die zur allgemeinen Belustigung ihre Gesichter schwärzten. Damals unerhört. Und ein Flop.

Allen, die sich für den frühen Film interessieren, wird der Einstieg in diese Comic-Biographie bzw. in die Materie erleichtert. Nach dem Comic-Teil, der immerhin über 300 Seiten umfasst, werden die historischen Personen mit ausführlichen Biographien vorgestellt, gefolgt von einer Timeline, die die einzelnen Stationen Alice Guys aufführt, aber auch die filmhistorischen Errungenschaften nicht außer Acht lässt. Und schließlich folgt eine Aufstellung mit den aktuell erhaltenen Filmen. Die ist angesichts der schieren Anzahl, die Alice Guy drehte, erschreckend kurz und veranschaulicht damit, wie viele ihrer Filme verloren gegangen sind (was leider kein Einzelfall ist – nur etwa 20-30 % aller stummen Filme sind erhalten geblieben). Interessanterweise verschwanden Alice und ihr Werk noch zu ihren Lebzeiten nach und nach aus der Filmgeschichte. Selbst renommierte Film-Kritiker und –Historiker schrieben ihre Filme anderen zu. Erst später, lange nach ihrem Tod im Jahr 1968, wurde dieses falsche Bild wieder gerade gerückt. Und damit auch die Genese und die Geschichte des Kinos wieder in korrekte historische Bahnen gelenkt. Der Band trägt seinen Teil dazu bei. (bw)

Alice Guy – Die erste Filmregisseurin der Welt
Text & Story: José-Louis Bocquet
Bilder: Catel (Catel Muller)
400 Seiten in Schwarz-Weiß, Hardcover
Splitter Verlag
45 Euro

ISBN: 978-3-98721-029-7

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