Lose Blätter (Carlsen)

März 27, 2023
Lose Blätter (Carlsen Verlag)

Comiczeichner ist der (v.a. im franko-belgischen Raum wahrscheinlich nicht ungewöhnliche) Berufswunsch des zwölfjährigen Max. Der Junge erweist sich als talentiert, wird von den Eltern unterstützt und zeigt Interesse am Mittelalter. Er beginnt seine erste eigene Geschichte zu schreiben und zu zeichnen. Fachmännischen Rat erhält er dabei von einem Unbekannten mit rauschendem roten Bart, der gerade die alte Burg im Wald gekauft hat und der sich offenbar gut mit Comics auskennt. Max‘ erste Hauptfigur in seinem Comic heißt Raoul und ist ein Kopistenmönch…

Bruder Raoul kopiert im klösterlichen Skriptorium Bücher. Eines Tages trifft er in der Stadt auf einen Unbekannten mit rotem Rauschebart, der behauptet, mittels einer Maschine Schriften beliebig oft vervielfältigen zu können. Was auch der Obrigkeit zu Ohren kommt, die den Mann als vermeintlichen Ketzer in den Kerker werfen lässt. Dennoch kann er Raoul das Versteck der Druck-Maschine verraten. Begeistert und berauscht von der neuen Technik ersinnt Raoul eine Bilder-Geschichte, die in ferner Zukunft spielt und in der eine junge Frau namens Suzie im Mittelpunkt steht…

Suzie sitzt in der Klemme. Einerseits sieht sie sich in der Pflicht, die Comicserie, die ihr Vater vor 40 Jahren erdachte, fortzuführen und damit sicheres Geld zu verdienen, andererseits ist sie der Figur überdrüssig. Was auch die Leserschaft merkt, die das letzte Album gerade zum Flop werden lässt. Doch wie ihrem Vater, der gerade auf einem Comicfestival auf dem Mond weilt, beibringen, dass sie gerne etwas anderes, neues machen würde? Nämlich eine Geschichte, in der ein kleiner Junge namens Max die Hauptrolle spielt…

Die Inhaltsangabe mit den drei Erzähl- und Zeitebenen lässt bereits erahnen, dass diese miteinander verwoben sind. Doch Alexandre Clérisse, der hier einmal nicht wie bei seinen vorherigen Alben mit Thierry Smolderen (zuletzt „Ein Jahr ohne Cthulhu“) zusammenarbeitet, sondern auch die Story verantwortet, lässt sich bis dahin erst einmal Zeit und erzählt die Geschichten parallel, bzw. in Kapiteln hintereinander. Er beginnt mit der Gegenwart und dem jungen Max, der von Comics begeistert ist und ungestüm seine erste Zeichenversuche unternimmt, wobei der Unbekannte (der in seinem Aussehen an den legendären Spirou-Chefredakteur Yvan Delporte erinnern mag) zwar als Mentor fungiert, den dennoch eine geheimnisvolle Aura umgibt.

Panel aus „Lose Blätter“

Dann tauchen wir ein in Max‘ Strip und verfolgen den mittelalterlichen Weg des Mönchs Raoul. Spätestens als hier wieder der Unbekannte auftritt wird klar, dass dieser eine Schlüsselrolle in der verschachtelten Erzählung spielen wird. Mit Suzies Geschichte, die in der Zukunft im Jahr 2078 spielt und die eigentlich Raoul schreibt und zeichnet, kommt dann die dritte Ebene ins Spiel, die schließlich wiederum mit der ersten verknüpft wird. So wechselt das Geschehen kunstvoll und irgendwann scheinen sich auch die Figuren ihrer seltsamen Existenz bewusst zu werden oder diese zumindest erahnen….

Alexandre Clérisse spielt hier mit Realitäten und Zeiten, die mehr und mehr raffiniert miteinander verwoben werden. Man fragt sich, wer hier wen zeichnet und welche Realität die „echte“ ist oder sein kann. Die Eindeutigkeit der Zeitlinien verschwimmt zusehends und verkantet sich schließlich. Das Verwirrspiel, wer jetzt welche Figuren zeichnet und damit steuert, verdichtet sich immer mehr und wird am Ende sogar erklärt, der Weg dahin ist jedoch interessanter als die Auflösung. Stilistisch bleibt sich Clérisse treu. Sein ungewöhnlicher Zeichen- und Erzählstil (wie der Verzicht auf Panel- und Sprechblasen-Umrandungen), gepaart mit einem immer wieder originellen und unkonventionellen Seitenaufbau und stimmigen Farben passt hier einmal mehr bestens. (bw)

Lose Blätter
Text & Bilder: Alexandre Clérisse
144 Seiten in Farbe, Hardcover
Carlsen Verlag
25 Euro

ISBN: 978-3-551-79187-3

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