Seltsame Berufe gibt es ja viele, aber die Betätigung von Simon Radius ist dann doch äußerst absonderlich: der gute Doktor hat die Fähigkeit, in die Erinnerungen seiner Gegenüber einzutauchen und nutzt dies als Privatdetektiv zur Aufklärung von allerlei Missetaten. Die Kommissarin Sandra Brody traut ihm gegen den Rat ihrer Vorgesetzen einigermaßen über den Weg und schleppt daher auch den neuesten Verdächtigen an: ein gewisser Pierre Chandon soll seine Vermieterin ermordet haben und gebärdet sich in der Tat als gemeingefährlicher Serienmörder. Radius schlüpft in die „mnemonischen Schleifen“ des Wüterichs und stellt sehr schnell die Wahrheit fest: Chandon hat die Leichen nur vorgefunden, leidet aber unter Mythomanie und stilisiert sich daher selbst in die Rolle des Täters, der auch für weitere Morde verantwortlich sein will.
Nachdem Radius aber keine Beweise für seine These vorlegen kann, sieht er sich gezwungen, selbst die Unschuld des widerwilligen Gefangenen zu beweisen, den Inspektor Padovani nur allzu gerne als Täter präsentieren würde. Radius nimmt die Fährte auf uns besucht das Haus der ermordeten Madame Bourdieu, wo ihn die spröde Tochter Ines ziemlich abfertigt. Als sich Radius an den Ort des ersten Mordes begibt, wo der ehemalige Polizist Baubert in seiner Wohnung erschlagen wurde, geben ihm die Erinnerungen des örtlichen Kanarienvogels (!) weitere wertvolle Hinweise: immer wurde ein Foto zerstückelt zurückgelassen. Dieses verbindet auch das dritte Opfer Gerard Messan, der ebenfalls erschlagen wurde – und hier findet Radius endgültig das zerstückelte Foto, das eine glückliche Familie beim Besuch einer Burgruine zeigt. Diese Spur bringt Radius endlich zur Wahrheit, in der eine durchaus unerwartete Täterin eine persönliche Tragödie mit einer gehörigen psychologischen Störung verarbeitet…
Nächster Psycho-Fall: der zwielichtige Padovani schlägt Radius einen abenteuerlichen Deal vor. Der geistig zurückgebliebene Jean-Paul Bardet soll seine Mutter umgebracht haben, woran erhebliche Zweifel bestehen. Padovani wittert seine Chance – wenn Radius dank seiner psychologischen Fähigkeit entweder den Schuldbeweis erbringen oder gar einen anderen Täter ermitteln kann, will er im Gegenzug Informationen preisgeben, die Radius verzweifelt sucht. Schließlich ist Radius auch selbst sein eigenes Forschungsobjekt: Seit seine Frau Dora verschwunden ist, sucht er in seiner Erinnerung nach Hinweisen und findet diese schließlich in einem Brief an einen geheimnisvollen David Clement, den Padovani vorgibt zu kennen. Radius hält seinen Teil der Abmachung: er durchforstet wiederholt Bardets gestörte Psyche und fügt nach und nach die Puzzleteile zusammen.
Der Ärmste leidet offenkundig unter einem schweren Kindheitstrauma, da sein Vater ihn nie liebte und im Alter von vier Jahren die Familie verließ. Das Märchen vom Frauenmörder Blaubart hinterließ das Kind traumatisiert und mit einer dreifach gespaltenen Persönlichkeit, die ein verbrecherischer Onkel bewusst ausnutzte, um den erwachsenen Bardet zum Mord zu verleiten und so das Alleinerbe einzustreichen. Padovani schmückt sich mit dieser sensationellen Erkenntnis, denkt aber nicht im Traum daran, die Abmachung einzuhalten…
Sherlock Holmes meets Johnny Mnemonic: so könnte man diese brillante Mischung beschreiben, die Benoit Dahan hier anrührt. Wie schon in der genialen wilden Fahrt, mit der er uns in den „Kopf von Sherlock Holmes“ führte, tauchen wir auch hier tief ein in Verwirrungen, Traumata, verdrängte und unliebsame Wahrheiten. Optisch geschickt inszeniert als Reise durch Wände und Türen, schwebt Radius von Szene zu Szene, in der er – wie weiland der Blade Runner, der ein Foto am Elektronenmikroskop untersuchte und dabei in den Nebenraum schaute – den Gedächtniswust quasi als Fundus nutzt, um immer mehr Hinweise zusammenzufügen. Von seinen Kollegen, allen voran dem Starpsychologen Bonsigneur, wird er mit Häme überschüttet, weil seine Methoden unorthodox sind – genauso wie seine eigene Psyche seit dem Verschwinden seiner Frau alles andere als geordnet ist.
So vermischen sich Ermittlung in fremden Fällen mit dem Erkunden des eigenen Innenlebens, in dem er – wie schon im Gedankenpalast des Sherlock Holmes – Dinge entdeckt, die seinem Bewusstsein vollständig verborgen sind. Auch wenn der Band ohne die vielen optischen und auch haptischen Kniffe auskommt, die den „Kopf des Sherlock Holmes“ auszeichneten, erleben wir dennoch eine furios inszenierte Reise ins Ich, die optisch durch Stilisierung, Überzeichnung, Symbolismus und einem kleinen Buch im Buch (das Märchen von Blaubart) überzeugt. Ein jederzeit überraschender psychologischer Thriller, in dem nichts ist, wie es scheint. Band 2, „Das Erbe des Hundertjährigen“, ist bereits für Januar 2023 angekündigt. (hb)
Psycho Investigator, Band 1: Die Genese
Text: Erwan Courbier, Benoit Dahan
Bilder: Benoit Dahan
144 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
35 Euro
ISBN: 978-3-96792-378-0