Dracula (Splitter)

April 19, 2021
Dracula (Splitter Verlag)

Immobiliengeschäfte sind immer komplizierte Unterfangen. Richtig spannend wird es allerdings, wenn der Kaufinteressierte in einem der entlegensten Winkel der Welt haust. Aber Jonathan Harker macht sich ungerührt auf den Weg nach Transsilvanien, wo er alle Warnungen der Einheimischen in den Wind schlägt, auf dem Borgo-Pass von einer unheimlichen Kutsche in Empfang genommen und in Richtung der Burg des Grafen Dracula gefahren wird. In einem zerfallenen Schloss empfängt ihn der Hausherr des Nachts, bietet Einlass in sein Heim und studiert emsig die Kaufverträge für diverse Liegenschaften in London. Schon bald beschleichen Harker Zweifel, ob hier alles mit rechten Dingen zugeht: der Graf scheint der einzige Bewohner der Ruine zu sein, ist am Tag stets verschwunden und schärft Harker ein, ja nicht sein Zimmer zu verlassen, schon gar nicht nach Sonnenuntergang. Als Harker eines nachts den Schatten des Grafen an der Burgmauer entlanghaschen sieht, fasst er sich ein Herz und erkundet die Lage. Draculas Zimmer ist unbewohnt, in einer düsteren Gruft findet Harker den Grafen in einem Sarg ruhend und flieht vor Grauen.

In einem verlassenen Zimmer suchen ihn geisterhafte Gespielinnen heim, die vom Hausherrn allerdings rüde vertrieben werden. Harker, dem seine Gefangenschaft mittlerweile klar ist, beobachtet noch, wie wüste Gesellen 50 längliche Kisten gefüllt mit Erde wegschaffen. Während er Draculas Bräuten zum Opfer fällt, macht sich der Graf mit seiner Heimaterde auf dem Schiff Demeter auf in Richtung England, um seine neue Heimat in Besitz zu nehmen. Dort fällt Lucy Westenra, Freundin von Harkers Verlobten Mina, plötzlich einer seltsamen Krankheit anheim: sie wirkt anämisch, verliert immer mehr Blut und weist Bisswunden wie von einem wilden Tier auf. Als sich der Hausarzt der Familie Dr. Seward nicht mehr zu helfen weiß, ruft er seinen alten Lehrer und Freund Van Helsing zu Hilfe, der messerscharf konstatiert: Lucy ist Opfer eines Untoten geworden, einem Nosferatu, der vom Blut seiner Opfer lebt und sich in allerlei Kroppzeug verwandeln kann.

Trotz aller Schutzmaßnahmen inklusive einer Knoblauch-Halskette gelingt es Dracula, Lucy mehrmals zu überfallen und schließlich zu töten. Van Helsing tritt den endgültigen Beweis für seine These an: mit Dr. Seward, dem Australier Quincey Morris und Lucys Verlobtem Lord Holmwood legt er sich nachts in der Gruft der Westenras auf die Lauer und beobachtet, wie die untote Lucy mit einem ihrer Opfer ihre Heimstatt aufsucht. Per Holzpflock macht man der untoten Seele komplett den Garaus. Als Harker wunderbarerweise wieder in London auftaucht und von seinen Erlebnissen berichtet, ist für van Helsing klar: ein mächtiger Vampir haust mitten in London in Carfax Abbey und muss mit allen Mitteln bekämpft werden…

Die populär-kulturhistorische Bedeutung von Bram Stokers Schauerroman, der 1897 erstmals erschien, ist wohl nur noch mit Mary Shelleys „Frankenstein or the Modern Prometheus“ zu vergleichen. Nicht zuletzt dank erfolgreicher Bühnenfassungen erlangten beide Romane ungeheure Beliebtheit, die sich Anfang der 30er durch die beiden Universal-Verfilmungen zu den sicherlich bekanntesten Ikonen des gesamten Horror-Universums steigerte. Stoker vermengte in seinem Roman gekonnt die historische Figur des Vlad Tepes, einem grausamen walachischen Fürsten (wobei diese Vorlage bisweilen auch abgestritten wird), mit dem auch vorher schon existierenden literarischen Genre der Vampirgeschichte. Diese befeuerte vor allem Sheridan Le Fanu 1872 mit Carmilla, den eigentlichen Startschuss zur Blutsaugerei gab allerdings John Polidori bereits 1816 mit seiner Erzählung „The Vampyre“, die im Rahmen eben jenes Wettbewerbs im Geschichtenschreiben entstand, mit dem sich am Genfer See Lord Byron, Percy Shelley, dessen Frau Mary und eben Polidori die Zeit vertrieben – und aus dem vielsagenderweise auch die Frankenstein-Idee geboren wurde.

In einer Mischung aus Briefroman, Reisebeschreibung und Schauermär entwickelte Stoker die komplette Vampir-Mythologie, inklusive der fehlenden Schatten, abschreckenden Wirkung von Kruzifixen und Knoblauch bis hin zur Verwandlung in Fledermäuse, Wölfe und anderes Viehzeug (wobei der Original-Dracula durchaus über Wasser reisen kann und nicht wie in späteren Filmversionen daran scheitert, fließende Gewässer zu überqueren). Nach diversesten Comic-Inkarnationen, nicht zuletzt die aufgepeppte Marvel-Version von Gene Colan und Marv Wolfman, wagt sich jetzt mit Georges Bess (u.a. „Juan Solo“, „Der weiße Lama“) ein renommierter, französischer Comic-Routinier (Jahrgang 1947) an die gewaltige Materie und damit nach „Der Vampir von Benares“ erneut an das Genre. Das Ergebnis ist eine wuchtige, werktreue Adaption, bei der auf jeder Seite der modrige Hauch der Vorlage herüberweht: Dracula bewundert die Musik der Kinder der Nacht, seine Gestalt erscheint unheimlich-dämonisch, die Kulisse der Burg gerät zunehmend zum Alptraum, in dem Harker gefangen ist.

Alle Figuren, inklusive des besessenen Dieners Renfield, erhalten genügend Raum, Bess konzentriert sich auf die zentralen Szenen des Romans, die in Kapiteln gereiht sind, ohne merklich zu kürzen oder umzuarrangieren (dabei fällt einmal mehr auf, die nah auch Francis Ford Coppolas Verfilmung an der Vorlage bleibt). Gar nicht gruselig ist dabei die Gestaltung: in atmosphärischer, standesgemäßer Schwarz-Weiß-Inszenierung setzt Bess auf die ganz große Geste, mit ausschweifenden Landschaften, scherenschnitthafter Perspektive, schauerlicher Portraits (in denen Bess sich zunehmend an Optik der beiden deutschen Nosferatu-Filme – einmal das Original von Murnau und einmal das Remake von Werner Herzog mit Klaus Kinski als Phantom der Nacht – annähert und einzelne Szenen direkt nachstellt) und expressiven Kombinationen von Text und Bild. So entsteht ein Gesamtkunstwerk, das seiner Vielschichtigkeit und künstlerischen Ausgereiftheit der Vorlage in nichts nachsteht. Splitter bringt den Band standesgemäß imposant im Großformat mit Golddruck und Anhang – und auch hier gilt: Wein trinkt er niemals. (hb)

Dracula
Text & Bilder: George Bess, nach Bram Stoker
208 Seiten in Schwarz-Weiß, Hardcover
Splitter Verlag
39,80 Euro

ISBN: 978-3-96219-570-0

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