Shanghai Dream (Splitter)

Juni 25, 2020
Shanghai Dream (Splitter Verlag)

Berlin, Ende 1938. Das Ehepaar Bernhard und Illo – er Regie-Assistent, sie Drehbuchautorin – arbeitet für die UFA. Oder besser: arbeitete. Denn beide sind Juden und durch die Rassengesetze der Nazis praktisch mit einem Berufsverbot belegt. Und damit ihrer Existenzgrundlage beraubt. Eigentlich wollten Sie fliehen, weg aus Deutschland, weg von den Nazis. Doch Illos ältlichem Vater zuliebe, einem hochdekorierten Veteran des Ersten Weltkriegs, sind sie geblieben. Was soll schon geschehen, wenn man einen deutschen Kriegsheld als Vater hat? Doch die Realität holt sie bitter ein. Das Leben wird immer gefährlicher, die Übergriffe der Nazis häufen sich und schließlich bleibt nur der Weg ins benachbarte Ausland. Doch der ist versperrt, bzw. für den Vater nicht zu stemmen, der keine langen Fußmärsche mehr bestreiten kann. Nur ein Weg bleibt übrig: nach Shanghai und von dort später in die USA. Ein letztes Mal schafft es Illos Vater, seine Beziehungen spielen zu lassen und tatsächlich gelingt es, die Überfahrt und die Ausreise zu organisieren. Aber nur für zwei Personen. Schweren Herzens lassen Bernhard und Illo den Vater zurück…

Nach der Machtergreifung durch die Nazis flohen zahllose Juden und andere Verfolgte, darunter viele Wissenschaftler und Künstler, aus dem Deutschen Reich. Die meisten wählten den Weg über Frankreich oder England und dann in die USA. Was weniger bekannt ist: Auch Shanghai wurde zum Fluchtpunkt. Dort bildete sich schnell eine jüdische Gemeinde mit rund 20.000 Flüchtlingen. Die Stadt war zwar von den Japanern (und anderen Besatzungsmächten) besetzt, die die Juden jedoch nicht verfolgten, auch auf Drängen der Nazis nicht. Dennoch waren die Lebensumstände dort hart. Arbeit und Unterkünfte Mangelware. Und doch wird Shanghai für Bernhard und Illo zur Projektion für ein besseres Leben, ein Ort, in dem sie ihre Träume verwirklichen wollen. Denn Illo hat ein Drehbuch geschrieben, auf das ihr Mann große Stücke hält. Er will es in Shanghai verfilmen, denn in der Stadt ist ebenfalls Filmindustrie ansässig. Doch einmal mehr soll die düstere Realität die bunten Träume vertreiben.

Mehr zur Story wollen wir hier nicht preisgeben, das wäre fatal. Die Geschichte, in der Bernhard immer mehr zum Hauptakteur wird, steckt voller Dramatik. Zuerst will und kann die Familie nicht verstehen, dass sich der Hass der Nazis gegen sie richtet. Und gegen den Vater, der doch so tapfer für seine deutsche Heimat kämpfte. Doch wird das Klima immer repressiver, was Bernhard auch am eigenen Leib erfahren muss. Dann die riskante, verzweifelte Flucht, die für ihn so ganz anders verläuft als geplant. Und schließlich angekommen legt man in Shanghai nicht an der westlich und damit verheißungsvoll aussehenden Altstadt an, sondern am ärmlichen Bezirk Hongkou, der später, als die Japaner Shanghai komplett besetzen, zum Ghetto für die Flüchtlinge werden soll. Vom Regen in die Traufe, aber immerhin nicht verfolgt. Unter widrigsten Umständen versucht Bernhard, seinen Film, den er inzwischen „Shanghai Dream“ nennt, umzusetzen und muss auch dabei immer wieder gefährliche Rückschläge in Kauf nehmen.

Die Macher des Bandes, der – im Original ein Zweiteiler – bei Splitter im Double-Format erscheint, sind Autor Philippe Thirault, der u.a. durch „Rückkehr nach Belzagor“ und „Heiligtum Genesis“ bekannt ist und Jorge Miguel, der bereits die Science Fiction Reihe „Die Ausgestossenen von Orion“ zeichnete und der hier einen realistischen wie sachlichen, beinahe klassischen frankobelgischen Stil pflegt. Ihre Schilderung eines fiktiven Flüchtlingsschicksals vor einem Regime, das jegliche Menschlichkeit ohne Gewissen begraben hat, fernab und entwurzelt von der Heimat in einem fremden Kulturkreis, ist exemplarisch wie tragisch und steckt leider noch immer voller mahnender Aktualität. Nicht nur von daher geben wir „Shanghai Dream“ eine unbedingte Leseempfehlung. (bw)

Shanghai Dream
Text: Philippe Thirault
Bilder: Jorge Miguel
112 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
22 Euro

ISBN: 978-3-96219-510-6

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