Die Fahrten des Odysseus (Splitter)

November 28, 2019
Die Fahrten des Odysseus (Splitter Verlag)

Istanbul, um 1870. Der begeisterte aber mittellose Maler Jules Toulet sucht eine Mitfahrgelegenheit und trifft dabei zufällig auf Salome Ziegler, die unnahbare Kapitänin der Odysseus. Auch sie liebt die Kunst, v.a. die wuchtigen Bilder des Malers Ammon Kasacz, der durch Motive aus der griechischen Antike bekannt wurde. Beide gehen einen Deal ein: Jules darf an Bord, liefert Salome dafür jede Woche ein Bild ab und muss ihr helfen, Gemälde von Ammon Kasacz ausfindig zu machen, die überall im Mittelmeerraum verbreitet sind. Und am Ende der Suche soll der Maler selbst stehen. Warum Salome so verbissen danach sucht, erfahren wir nach und nach in Rückblenden: Ihre Mutter Athénaïs liebte Homers Odyssee. Und sie war begeistert von der Malerei von Ammon Kasacz. Der Vater, ein vermögender Arzt, engagierte schließlich sogar den Maler, der von der Schönheit und dem Wesen von Athénaïs angetan war und sie portraitieren wollte. Bis ein Unglück geschah, das das Leben aller Beteiligten einschneidend und für immer veränderte…

Die Fahrten des Odysseus sind hier auch die Fahrten DER Odysseus, jenes Schiffes, das Salome als Kapitänin befehligt und das sie kreuz und quer durch den Mittelmeerraum führen wird. Während Jules seiner verflossenen Anna nachtrauert und ansonsten in den Tag hineinlebt, erweist sich Salome als Getriebene, die sich auf eine Irrfahrt begibt, mit einem festen Ziel vor Augen, wie Odysseus in Homers Opus, der vor seiner Rückkehr in seine Heimat Ithaka noch diverse Abenteuer zu bestehen hat. Warum Salome beinahe zwanghaft nach den Bildern des Malers Kasacz sucht, bzw. den Herrn selbst – der vorerst ein Phantom bleibt, denn es ist unklar, ob er überhaupt noch lebt – enthüllen die ausführlichen Rückblenden, die sich allesamt auf das Leben der Kapitänin konzentrieren, während Jules‘ Vergangenheit weitestgehend unbeleuchtet bleibt. Salomes Werdegang gleicht einer griechischen Tragödie, gespickt mit diversen Schicksalsschlägen und Katastrophen und bald ahnt man, dass sie mit ihrer persönlichen Odyssee ihre Katharsis sucht.

Die Fahrten des Odysseus (Seite)
Jules und Salome auf der Odysseus

Homers klassische Odyssee ist dabei allgegenwärtig und bildet für die Geschichte, wie auch für das Leben der Charaktere einen ständigen Rahmen, ob direkt oder in Motiven: zuerst als Lieblingsbuch der Mutter, eine Schönheit, die sich gerne über Konventionen hinwegsetzt und die selbst in wallenden Kleidern wie eine anmutige griechische Göttin erscheint. Später liest Salome ihrer Mannschaft aus dem Werk vor, die den antiken Worten stets gebannt lauscht. Natürlich zeigen auch die Gemälde von Ammon Kasacz Szenen aus der Odyssee, dazu kommen immer wieder direkte Textauszüge, die ganzseitig in dem Band wiedergegeben werden. Auch die Anlaufstationen der Odysseus, die durchaus heiklen Situationen bei der Beschaffung der Gemälde (die natürlich nicht immer freiwillig herausgegeben werden), stehen für die Gefahren, die das literarische Vorbild auf seiner Irrfahrt durchlebt.

Inszeniert ist der Band von Emmanuel Lepage (unterstützt von seiner Frau Sophie Michel), der hier einmal mehr in seinem Element ist. Und das heißt Wasser. Wie schon in „Ar-Men“ und „Reise zum Kerguelen-Archipel“ beeindrucken v.a. die maritimen Darstellungen, mal sanft, mal wild in ihrer atmosphärischen Dichte, farblich meist dezent in direkt kolorierten Brauntönen gehalten: stimmige Hafenansichten voller Segler, nächtliche Szenen auf See, oder der Bug, der sich durch die Wellen pflügt. Bei den Gemälden des (fiktiven) Malers Ammon Kasacz behilft man sich eines originellen Kniffs: Lepage und Michel nehmen Bilder des Zeichen-Veterans René Follet („Wachsfiguren“ bei Comicplus), die teilweise für ein anderes Werk schon 1971 entstanden, teilweise neu gezeichnet wurden und die hier gerne in übergroßen Panels reproduziert werden (inkl. Anhang). So entsteht, wie bei Lepage nicht anders gewohnt, ein Comic der Extraklasse, edel gezeichnet und faszinierend realisiert. Übrigens: der gemeinsame Sohn von Lepage und Michel heißt Ulysse… (bw)

Die Fahrten des Odysseus
Text: Emmanuel Lepage, Sophie Michel
Bilder: Emmanuel Lepage, René Follet
272 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
39,80 Euro

ISBN: 978-3-96219-299-0

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