Chiisakobee, Band 1 (Carlsen)

März 22, 2018

Eigentlich hat Shigeji mit dem Unternehmen seiner Eltern, der Zimmerei „Daitome“, nicht viel am Hut. Er reist lieber, studierte Architektur und stieg nur widerwillig in die Firma ein. Bis sich mit einem mal alles ändert. Denn bei einem Großbrand wird die Zimmerei, wie auch angrenzende Gebäude, völlig zerstört. Eine Katastrophe, die auch zwei Todesopfer fordert: seine Eltern. Plötzlich ist Shigeji Chef und muss die Verantwortung tragen. Und viel Zeit zum Trauern bleibt ihm nicht, denn er beschließt, die Firma ohne fremde Hilfe und mit knappem Budget wieder aufzubauen und weiterzuführen. Dann ist da noch Ritsu, die Shigeji noch von früher kennt. Ritsu betreut fünf Waisenkinder, die in einer Wohlfahrtseinrichtung lebten, welche ebenfalls vom Feuer zerstört wurde. Sie zieht in das Elternhaus Shigejis ein, um sich dort um die beiden beim Brand unverletzt gebliebenen Lehrlinge zu kümmern. Und bringt die fünf Kinder kurzerhand mit. Shigeji, vollauf mit der Firma beschäftigt, duldet dies vorerst und scheint sich dann sogar mit der Situation zu arrangieren. Und auch mit Ritsu?

Der Mangaka Minetaro Mochizuki veröffentlichte bei Panini vor Jahren seine Serie „Dragon Head“ (10 Bände zwischen 2001 und 2002). Die Reihe handelte von einer Gruppe Schüler, die eingeschlossen in einem Tunnel ein mysteriöses Zugunglück überlebt haben und wurde von einer alptraumhaften, finsteren Atmosphäre geprägt. Sein aktueller Vierteiler „Chiisakobee“ geht in eine ganz andere Richtung. Hier berichtet er als Adaption eines Romans von Shugoro Yamamoto (1903-1967) vom Schicksalsschlag eines jungen Mannes und dessen Bewältigung, wobei Minetaro Mochizuki das Geschehen der Vorlage aus der Edo-Zeit in die Gegenwart versetzt. Dabei schafft er ein wahres Panoptikum von skurrilen und starken Charakteren, die vom Leben gezeichnet sind, wobei sich die Story zu einer Dreiecksgeschichte entwickeln vermag. Shigeji ist ein rechter Eigenbrötler und Sturkopf. Seine langen Haare samt Vollbart verdecken stets sein Gesicht. Er übernimmt die Firma, handelt unkonventionell und setzt sich durch. Wie auch Ritsu. Auch sie hat ihre Mutter verloren. Auch sie hat einen starken Willen, auch wenn sie sich als Hausmädchen fleißig und bescheiden gibt.

Die Dritte im Bunde ist Yuko, Tochter des Bankchefs. Sie ist intelligent, bildhübsch, selbstbewusst und unterrichtet als ausgebildete Erzieherin und Kindergartenlehrerin die fünf Waisen in Shigejis Haus. Die Richtung der möglichen Beziehung der drei Hauptpersonen wird dabei in Nuancen angedeutet. Während sich Ritsu demütig gibt, sieht man am Ballen ihrer Fäuste, dass sie eigentlich anderer Meinung ist. Und Shigeji fragt sich, was die Miene der melancholisch dreinblickenden Ritsu bedeuten könnte. Sieht sie Yuko etwa als Konkurrentin? Neben diesen feinen Beobachtungen, Hinweisen und leisen Tönen bilden die Nebenfiguren ein starkes, wie schräges ergänzendes Ensemble, das auch für humoristische Einlagen sorgt. Allen voran die Waisenkinder, bisher alle namenlos. Die eine rennt in Unterwäsche umher, ein Junge trägt ausschließlich T-Shirts mit Variationen von Stanley Kubricks „Shining“ und ein Mädchen in Adidas-Trainingsanzug schminkt sich die Augen schwarz und schwadroniert über die Bestrafung von Erwachsenen. Dabei schauen die Kinder genau diesen ein ums andere Mal aufs Maul und halten ihnen den Spiegel vor. Und Yukos Vater tritt als ihr Bewunderer auf, der heimlich Fotos von seiner Tochter schießt und ihr seltsame Komplimente macht…

Ein ruhiger bedächtiger Manga aus dem Leben. Der Zeit braucht, um sich zu entwickeln und genau dies tut. Gefühle werden nur angedeutet – außer bei den Kindern, die gerade heraus sind. Die Hauptpersonen haben Verlust und/oder Schmerz erfahren und sind auf sich gestellt, bahnen sich mühevoll, aber unbeirrt einen steinigen Weg durch das Leben und sind womöglich doch aufeinander angewiesen. Minetaro Mochizuki inszeniert die Geschichte entsprechend, überrascht dann hin und wieder mit Vorausblicken, Rückblenden und kleinen Parallel-Montagen. Seine Zeichnungen sind klar und ruhig und dort wo es nötig erscheint sehr detailliert und realistisch (Kulleraugen sucht man vergebens), bisweilen aber auch statisch und mit Wiederholungen (etliche Panels mit Schuhen). Minetaro Mochizuki wird übrigens wie vor ihm Jiro Taniguchi demnächst ein Buch über den Louvre gestalten. Der vierte und letzte Band von „Chiisakobee“ wurde übrigens 2017 beim Comicfestival in Angoulême preisgekrönt. Band 2 ist bei Carlsen in Vorbereitung und erscheint Ende April. Dann erfahren wir vielleicht auch, was es mit dem Titel auf sich hat. (bw)

Chiisakobee, Band 1: Die kleine Nachbarschaft
Text & Bilder: Minetaro Mochizuki; nach Shugoro Yamamoto
212 Seiten in Schwarz-Weiß, Softcover, Kleinformat
Carlsen Verlag
14,90 Euro

ISBN: 978-3-551-72095-5

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