Wir sehen uns dort oben (Splitter)

Juni 19, 2016

Wir sehen uns dort oben (Splitter)

Frankreich 1918. Die letzten Tage des Krieges in den mörderischen Schützengräben. Unter einem falschen Vorwand – er erschoss zuvor zwei eigene Männer und schob die Schuld den Deutschen zu – schickt der skrupellose Leutnant Pradelle seine kriegsmüden Soldaten noch einmal gegen den Feind. Dabei werden die einzigen Zeugen des Verrats, Maillard und Péricourt, verschüttet, bzw. entsetzlich entstellt. Nach dem Krieg ist Maillard traumatisiert und kümmert sich um den schwer verletzten Péricourt, dem das Kinn weggeschossen wurde. Der will nicht zu seiner vermögenden Familie zurück und Maillard verschafft ihm eine neue Identität. Als versehrte Kriegsheimkehrer fühlen sich die beiden, die sich nun in Paris eine karge Wohnung teilen, als Ausgestoßene und versuchen über die Runden zu kommen. Inzwischen macht der Karrierist und Kriegsgewinnler Pradelle ein Vermögen, indem er als Unternehmer in großem Stil Gefallene umbettet und Soldatenfriedhöfe anlegt. Er geht so einmal mehr im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen – Sorgfalt und Pietät sind ihm egal, für ihn zählt nur der Gewinn. Und: Péricourts Schwester ist inzwischen seine Frau. Während Pradelle immer vermögender wird, rigoros gegen jene vorgeht, die seinen Machenschaften auf die Spur kommen und dabei regelmäßig seine Frau betrügt, kommt Péricourt, der ein talentierter Zeichner ist, eine Idee. Eine Idee, sich an der Nachkriegs-Gesellschaft, von der er sich verraten fühlt, zu rächen: er will einen Katalog mit Kriegsdenkmälern anfertigen und diese dann den Gemeinden anbieten, das Geld kassieren und sich dann mit Maillard in die Kolonien, sprich, nach Nordafrika absetzen. Aber einer der potenziellen Kunden ist ausgerechnet Péricourts Vater, der mit Hilfe seines Schwiegersohnes Pradelle dem Betrug auf die Schliche kommt…

Geschichten, seien es Comics oder Filme, die den Krieg, ganz egal welchen, kritisch und anklagend verarbeiten, gibt es zuhauf. Die Schicksale der Soldaten, die nach Kriegsende heimkehren und die dann – versehrt oder/und traumatisiert – mit sich und der Welt nichts mehr anfangen können, werden da schon seltener aufgearbeitet. Dies gilt auch für den ersten Weltkrieg. Maillard und Péricourt waren in Verdun, schon damals Synonym für sinnloses Töten, für Materialschlachten ohne Raumgewinn und heute eine ewige Mahnung gegen den Krieg. Nach dessen Ende fühlt sich Maillard seinem entstellten Freund verbunden und verpflichtet, war er es doch, der ihn gerettet hat und dabei einen so hohen Preis zahlen musste. In einer ärmlichen Behausung versuchen die beiden über die Runden zu kommen. Péricourt freundet sich mit der kleinen Louise an, die keine Angst vor ihm zeigt. Er trägt verrückte Masken, die sein Gesicht verbergen, er kann nicht sprechen, lebt als eine Art Paradiesvogel entrückt in seiner eigenen Welt, vom schmerzlindernden und betäubenden Morphium abhängig. Pradelle wird zur Nemesis der beiden. Péricourt ahnt von dessen Verbindung mit seiner Familie nichts, während Maillard im Bilde ist und sogar eine Anstellung beim alten Péricourt annimmt, um das Geld für den Katalog zusammen zu bekommen. Der Schluss – dies vorweg – verläuft dann ganz anders als geplant. Denn das Leben macht allen Beteiligten einen Strich durch die vorgesehene Rechnung. Dabei finden alle – seien es die Guten oder die Bösen – ihre vom Schicksal geplante Erfüllung, so unterschiedlich diese auch ausschauen mag. Und am Ende schließt sich ein Kreis, auf traurige wie dramatische Weise.

Pierre Lemaitre adaptiert hier seinen eigenen Roman als Comic. Bekannt wurde der Autor durch Thriller und Krimis, für „Au revoir là-haut“, so der Originaltitel, wurde er mit dem Prix Goncourt, einem bekannten französischen Literaturpreis ausgezeichnet. Er zeigt eine Gesellschaft, die so schnell wie möglich den Krieg und dessen Teilnehmer vergessen will, die wieder leben will und zur Normalität zurückkehren möchte. Auf Kosten derer, die eben jede erstrebte Normalität verteidigt bzw. ermöglicht, die nun ihren alten Platz in der Gesellschaft verloren haben und die an deren Rand gedrängt auf sich alleine gestellt sind. Mit den Traumatisierten und Versehrten kommt die Erinnerung an den Krieg, und beides möchte man aus den Köpfen verbannen. Leute wie Pradelle, aalglatt, vermögend und skrupellos, lässt man dagegen gewähren. Überall werden Denkmäler aufgestellt, die an den Krieg erinnern sollen, die aber auch dazu dienen, symbolisch Abbitte zu leisten. Mit dem Denkmal ist die Verpflichtung an den Krieg erledigt, das Gewissen beruhigt. Und genau diesen „Boom“ wollen Maillard und Péricourt ausnutzen und so all jene treffen, von denen sie sich im Stich gelassen fühlen. Zeichner Christian de Metter, in Angoulême bereits preisgekrönt, ist ein Spezialist für Adaptionen. So setzte er bereits „Shutter Island“ und „Scarface“ in Szene, die beide auf Deutsch bei Schreiber & Leser erscheinen. Auch hier besticht er mit ausdrucksstarken Gesichtern und Charakterisierungen und einer Farbgebung, die an zeitgenössisch Bildmaterial, wie eingefärbte Postkarten, erinnert. (bw)

Wir sehen uns dort oben
Text: Pierre Lemaitre
Bilder: Christian de Metter
164 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
29,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-393-6

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