Düsseldorf im Jahr 1935. Die Columbusstraße im linksrheinischen Ortsteil Oberkassel. Hier lebt die Familie Dahmen: Karl, seine Frau Elisabeth, genannt Lissy und die vier Kinder: Eberhard, Peter, Marlies und Karl-Leo. Karl ist Veteran des ersten Weltkriegs, jetzt Rechtsanwalt – er hat ein anständiges Auskommen, der Familie geht es gut. Eberhard, der Älteste, macht sein Abitur, kommt zum Arbeitsdienst und wird schließlich Soldat. Bald nach Beginn des Krieges wird auch Peter Soldat der Infanterie, während Karl-Leo, der Jüngste, im Rahmen der Kinderlandverschickung ebenfalls von seinen Eltern Abschied nehmen muss. Die beiden ältesten Söhne müssen in Russland kämpfen, ihre Kriegserlebnisse schildern sie in zahlreichen Briefen nach Hause, wo auch aufgrund der zunehmenden Luftangriffe, die schon 1940 beginnen, die Lage immer gefährlicher wird…
Autor und Zeichner Tobi Dahmen, der mit seiner Graphic Novel „Fahrradmod“ bekannt wurde (ebenfalls bei Carlsen erschienen), legt mit seiner neuen Arbeit „Columbusstraße“ nicht nur ein monumentales 500-seitiges Werk vor, sondern auch ein sehr persönliches, schildert er doch die Geschichte seiner Familie zwischen den Jahren 1935 und 1945. Elf Jahre, natürlich geprägt durch die nationalsozialistische Herrschaft und den Zweiten Weltkrieg. Zuerst lernen wir Karl kennen, Tobi Dahmens Großvater. Er ist ein angesehener Anwalt, der bald „auffällig“ wird, da er sich nicht scheut, Kritiker des Regimes zu verteidigen. Auch sonst ist er den Nazis gegenüber kritisch eingestellt. Doch wie so viele in dieser Zeit schätzt er die noch neue politische Situation völlig falsch ein, mit einer aus heutiger Sicht unglaublichen Naivität den Nazis und dem Krieg gegenüber.
Man redet über die Nationalsozialisten, ganz unvoreingenommen, sieht politische Chancen. Denn Deutschland ist wieder wer. Zwar weiß man schon früh von Dachau und der Verfolgung der Juden, aber man beschwichtigt sich gegenseitig, glaubt anfangs, dass sich alles fügt, es schon nicht so schlimm wird – siehe das Gespräch Karls mit einem jüdischen Nachbarn. Kein „wehret den Anfängen“ weit und breit, stattdessen immer wieder der indoktrinierte Glaube an den Endsieg, wie er auch später inmitten einer Stadt in Trümmern zum Ende des verheerenden Krieges von einem Soldaten geäußert wird. Später lesen wir immer wieder Auszüge aus erhalten gebliebenen Briefen Eberhards aus Russland an seine Eltern. Die wirken oft harmlos, handeln gerne vom Klima, von den Landschaften und werden optisch von Tobi Dahmen immer wieder massiv konterkariert, indem er beispielsweise unkommentiert Darstellungen von Erschießungen mit dem Text verbindet und so das Grauen des Krieges visualisiert.
Die 500 Seiten Comic vergehen wir im Flug, es gibt keinerlei Längen, weder inhaltlich noch optisch. Mit immer wieder originellen Seiten- und Panel-Kompositionen veranschaulicht und rekonstruiert Tobi Dahmen geschickt die historischen Ereignisse aus Sicht seiner Familie, wie die Luftangriffe auf Düsseldorf oder das Ende der Schlacht von Stalingrad. Dabei legt er seinen Fokus abwechselnd auf seine Eltern daheim, auf die beiden Soldaten-Söhne Eberhard und Peter, der später nach Italien versetzt wird. Aber auch Karl-Leo (Tobi Dahmens Vater) durchlebt eine tragische Kindheits-Episode bei seinem Ziehvater fern der Heimat in Villingen. Daneben verfolgen wir die Geschichte der Familie Funcke in Breslau im heutigen Polen, wo Heinz Funcke, technischer Direktor einer Schraubenfabrik ist, die bald zu einer Munitionsfabrik umfunktioniert wird.
Tobi Dahmen ist mit dem Einblick in seine Familiengeschichte noch nicht am Ende. Denn eine Fortsetzung, die in der Nachkriegszeit spielt, ist bereits in Planung. Für diesen ersten Band benötigte er mehrere Jahre, auch aufgrund immenser und penibler Recherchearbeiten, die sich nach Sichtung des erhaltenen Materials (Briefe, Tagebücher und Interviews mit Familien-Mitglieder und –Freunden) ergaben. Eine Arbeit (siehe Glossar und Quellenabgaben am Ende des Bandes) , die sich nun auszahlt. Das Buch erntet durchweg gute Kritiken, und das völlig zu recht. „Columbusstraße“ ist eine sehr persönliche Geschichtsstunde, die man nicht verpassen sollte. (bw)
Columbusstraße
Text & Bilder: Tobi Dahmen
528 Seiten in Schwarz-Weiß, Hardcover
Carlsen Verlag
40 Euro
ISBN: 978-3-551-79663-9