Rorschach, Band 1 (Panini)

August 16, 2021

New York, 2020: 35 Jahre nach den schicksalhaften Ereignissen, die in einer (fingierten, aber das weiß ja keiner) Alien-Invasion und Beinahe-Weltkatastrophe endeten, befinden sich die Republikaner um Kandidat Turtley im Wahlkampf gegen den nicht überall beliebten demokratischen Präsidenten Robert Redford. Bei einer Wahlversammlung können die Sicherheitskräfte gerade noch ein Attentat verhindern: man findet zwei Gestalten vor, die offenbar einen Anschlag vorhatten, eine Dame in einem feschen Cowbody-Kostüm und eine Figur in Trenchcoat, Hut und Maske, die mehr als nur vage an den Vigilanten Rorschach erinnert, der im Zuge der Eskalation 1985 starb.

Um nicht allzu viel Staub aufzuwirbeln, setzt man einen Detective auf den Fall an, der zunächst einmal die Identitäten der beiden feststellt. Bei der jungen Dame ist das noch einfach: im Kostüm eines Westerngirls steckte eine gewisse Laura Cummings aus Montana. Beim älteren Herren findet man zwar keinerlei sachdienlichen Hinweise, aber doch zumindest ein Tonband, aus dem sich eine heiße Spur ergibt: offenbar steckte hinter der Rorschach-Maske der Comiczeichner William Myerson, der mit seiner Abenteuerserie „Pontius Pirate“ Erfolge feierte, mittlerweile aber seit Jahren völlig zurückgezogen lebt.

In der Wohnung des Toten im Wohnblock Lewis Tower findet der Detective das Türschild von Alma Adler, die ebenfalls noch im Hause wohnt und vor Jahrzehnten mit Myerson ein Date hatte. Aus den beiden wurde letztendlich nichts, Alma heiratete anderweitig, und ihr Mann Carl ließ offenbar keine Chance aus, den unterlegenen Myerson für seine Schmach zu verspotten. In der alten Wohnung von Alma findet der Detective schließlich Spuren, die auf einen Einbruch hindeuten, und bildet sich daraus seine Theorie: der alte Myerson wollte irgendwann die Niederträchtigkeiten nicht mehr hinnehmen und nahm die Rolle des berüchtigten Vigilanten an, der – unterstützt von seiner neuen Gefährtin Laura – Selbstjustiz übte. Aber, so die bange Frage, wie kann es dann sein, dass der Polizeicomputer plötzlich die brandheiße Information ausspuckt, dass der Tote die Fingerabdrücke von Walter Kovac trägt, der dem Detective immer präsenter vor dem geistigen Auge erscheint?

Legendäre, ganze Epochen definierende Werke sollte man am besten einfach ruhen lassen, das zeigen zahllose fehlgeschlagene Versuche, auf einzigartigen Erfolgen aufzubauen. Der Friedhof der Fortsetzungen ist reich bestückt, und auch Alan Moores und Dave Gibbons‘ monumentaler Meilenstein „Watchmen“, der 1986 als dystopische, höchst reflektierte Helden- und Genredekonstruktion durch die Szene fegte wie ein Orkan, blieb davon nicht verschont. Weder die „Before Watchmen“-Reihe noch die Ummodelung zu einer TV-Serie konnten dem Original Genüge tun, wobei wenigstens Zack Snyder mit seiner Kinofassung eine kundige und respektvolle Adaption in einem anderen Medium gelang.

Gerade Walter Kovac, dieser zutiefst getriebene, rücksichtslose Moralwächter, der der Welt gnadenlos den Spiegel vorhält und das durchgängig schlechte Gewissen der Anti-Zukunft des Jahres 1986 war, gehört zu den faszinierendsten Figuren im Watchmen-Kanon und hat eines der denkwürdigsten Zitate der Comic-Geschichte geliefert (nein, nicht sein Markenzeichen „hurm“, das natürlich auch immer wieder gut anzubringen ist – gemeint ist hier natürlich der Satz, der selbst die hartgesottensten Sträflinge aufhorchen lässt: „I am not locked in here with you. You are locked in here with me!“).

Umso mutiger scheint es da also, dass Tom King (zuständig u.a. für Strange Adventures, Mister Miracle und Heroes in Crisis) für seinen Beitrag zur DC Black Label Reihe ausgerechnet auf diesen Charakter verfällt. Aber, gleich vorweg: das Experiment gelingt. Und zwar ganz formidabel. Denn King macht das einzig Richtige und bringt kein Prequel, Sequel oder Spin-Off: er greift sich einfach den Charakter und spinnt eine eigene Storyline, die natürlich im Gefolge des Watchmen-Universums steht (Redford als Präsident, der Angriff der Tintenfische, den Adrian Veidt alias Ozymandias vortäuschte, alles schwingt mit), aber eine ganz eigene Charakteristik und Dynamik entwickelt. King entfaltet das Geschehen in bester hard boiled detective-Schule als Drama mit erheblichem film noir-touch, wobei sich die Zeitebenen immer wieder überschneiden: wir erleben z.B. die Ermittlungen in Myersons ehemaligem Wohnhaus jeweils kombiniert mit farblich abgesetzten Szenen, die sich so zugetragen haben – könnten.

Denn mehr und mehr wird der Detective dominiert von seinen Gedanken und Vorstellungen, in denen Rorschach alles andere als tot ist. Dabei schneidet King durchaus aktuelle Themen wie Waffenbegeisterung, Verschwörungstheorien (Lauras Vater z.B. ist davon überzeugt, dass der demokratisch-weichliche Präsident mit den Aliens paktiert und man daher Bürgermilizen braucht) und verhetzte Volksmassen an.

Aber auch hübsche Hommagen an die Vorlage dürfen nicht fehlen: da gibt es einen Comic im Comic namens „Der Unthinker“, und auch Myersons gefeierte Piratenserie verweist auf die „Tales of the Black Freighter“, die in „Watchmen“ das Hauptgeschehen spiegelten. Auch optisch liefert Jorge Fornés einen Leckerbissen, der feinfühlig die Gestaltung der Vorlage aufnimmt und gekonnt-behutsam aktualisiert. Eine zutiefst beeindruckende Variante einer legendären Figur, die nicht nur überrascht, sondern begeistert. Für Fans gibt es übrigens eine hübsche Variant-Ausgabe, die aber bereits vergriffen ist. Band 2 ist ebenfalls schon erhältlich. (hb)

Rorschach, Band 1
Text: Tom King
Bilder: Jorge Fornés
76 Seiten in Farbe, Hardcover
Panini Comics
15 Euro

ISBN: 978-3-7416-2276-2

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