Sonnenstein, Band 1 (Panini)

Dezember 4, 2015

Sonnenstein, Band 1 (Panini)

Ally und Lisa sind zwei ganz normale junge Mädels. Mitte 20, beide Single, Ally kommt aus behütetem Hause, schreibt Software für Computerspiele und verdient damit gutes Geld, Lisa versucht sich an einer Schriftsteller-Karriere. Die richtig große Liebe haben sie noch nicht gefunden, und das ist ja auch irgendwie verständlich, das kennt man ja. Denn Lisa träumt davon, gefesselt zu werden und so durchaus wehrlos sich in die Gewalt eines Spielpartners zu begeben. Und Ally ist nicht deshalb solo, weil sie hässlich ist, sondern weil ihr letzter Freund leider ebenso dominant war wie sie. Gut, geben wir es zu: die sexuellen Gelüste der beiden sind eben alles andere als das, was landläufig als „normal“ gilt. Deshalb gehen die beiden online auf die Suche und finden sich tatsächlich – über einen Zeitraum von zwei Monaten chatten und skypen sie, bis auf einmal die Frage im Raum steht: wollen wir uns nicht einmal treffen und all das tun, von was wir hier nur schreiben? Trotz aller Nervosität beraumt man in der Tat ein Date an. Ally macht einen ausgeklügelten Plan, bestellt bei ihrem Freund Alan eigens ein mit allerlei Spielsachen aufgerüstetes Bett – Lisa fragt sich, ob sie das wirklich durchziehen will, aber erinnert sich stets daran, dass alle Partner statt dem deftigen Stoff, den sie gerne hätte, bestenfalls Sahnetorte servieren konnten, wie sie sich ausdrückt.

Nach schlaflosen Nächten, zahlreichen Kleidungsdurchläufen und intensiven Gedankenspielen ist es soweit: Lisa klingelt bei Allycat, so ihr Nickname, an der Türe – und muss sofort aufs Klo. Macht aber nichts, die Damen unterhalten sich prächtig und kommen dann zum Punkt. Ally wird Lisa zärtlich und zuvorkommend behandeln – es sei denn, Lisa nennt sie Herrin. Und dafür sorgt sie dann in kürzester Zeit – das neue Bett nebst seiner Hilfsmittel kommt zum Einsatz. Abblende. Lisa kommt langsam wieder zu Verstand, Ally betreibt „Nachsorge“: in anderen Worten kümmert sich um sie. Gleich am selben Abend verabreden sie sich wieder, Lisa verbringt den Tag träumend in der Arbeit, trägt das Lederhalsband, das ihr Ally angelegt hat, quasi als Trophäe, während Ally mit Alan die Zeit totschlägt und zugeben muss, dass sie endlich als echte Dom auftreten kann. Nach zwei turbulenten Tagen voller erotischer Eskapaden, harmonischem Beisammensein und aufregenden Spielen dämmert es der Sub Lisa, dass sie für ihre neue Spielkameradin offenkundig doch deutlich mehr Gefühle hegt, als sie sich eingestehen möchte – und die Frage ist, ob Spiel und Gefühl zusammen existieren können oder sich im Weg stehen müssen…

Unter dem Pseudonym Shiniez machte Stjepan Sejic, der gefeierte Schöpfer und Zeichner von Death Vigil, Ravine und Witchblade, den Versuch, seine künstlerische Krise zu überwinden: gefrustet von dem fast schon fließbandhaften Produktionsprozess der Comicindustrie, ging er zurück zu einem Projekt aus seinen Anfangstagen, einer losen Sammlung von Pin-Up-Zeichnungen, die allesamt um das Thema Bondage und Fetisch kreisten, dem sie sich eher humoristisch näherten. Zunächst nur als lose Reihe in seinem Online-Blog veröffentlicht, entwickelte diese Szenenfolge eine ganz eigene Dynamik und brachte Sejic nach eigenen Worten endlich wieder die verloren gegangene kreative Energie zurück – und so ordnete er die einzelnen Szenerien und fügte sie zu dem zusammen, was schließlich zu Sonnenstein wurde: der Chronik einer Freundschaft zwischen zwei Frauen, die einfach nur ihre Gelüste ausleben wollen. Und eigentlich, so beschreibt es Lisa in ihrem inneren Monolog, der die Erzählung formt, geht es dabei doch nur um ein gemeinsam betriebenes, intensives Hobby, mit eigener Sprache und Nicht-Insidern unerklärlicher Begeisterung: BDSM-Anhänger, so sagt sie, sind nichts anderes als Sex-Nerds, abgedrehte Teilnehmer an einem erotischen Cosplay-Wettbewerb, die auch sonst liebenswerte Züge aufweisen.

Und genau das ist das Besondere an Sonnenstein (der Titel bezieht sich auf das „safeword“ von Lisa, also das Wort, das bei Gefährdung das Spiel sofort beendet – wie sie das allerdings mit einem Knebel im Mund noch sagen soll, bleibt unklar): fernab von jeder schwülstigen, spekulativ-schmierigen Porno-Attitüde schildert Sejic mit erstaunlicher Feinfühligkeit (und Mithilfe seiner Ehefrau, die ihm wohl einiges an fraulicher Innensicht erklären musste), wie zwei Menschen ihre Vorlieben ausleben und ihre Grenzen testen, auch wenn diese der gutbürgerlichen Norm nicht entsprechen. Dabei geht es vielmehr um die psychologische Motivation, um das fast schon selbstverständliche Erforschen dieser Dimensionen als um die eine lüsterne Zurschaustellung: klar schwelgt Sejic in oft ganzseitigen erotischen Bildern – dass er Frauen kann, dürfte bei einem Witchblade-Zeichner wenig überraschen – und nackten Tatsachen, aber die wirklichen Spielchen blendet er aus.

Und das ist auch gut so, denn hier geht es eben nicht darum, die Klientel von nicht ausgelasteten Hausfrauen zu bedienen, die sich scharenweise mit roten Ohren in die 50-Shades-Schmonzetten vertiefen, sondern um eine natürlich erotische, aber auch sehr romantische Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen – was interessanterweise auch nur für Lisas reaktionäre Zicke von Arbeitskollegin überhaupt ein Thema ist. Ally erscheint dabei eindeutig als aus der Comicszene bestens bekannter Typ des Powernerd, komplett mit Brille, akribisch verfolgten Computerspielen und nahezu kompletter sozialer Isolation, während Lisa ihre Fantasien bislang nur in Form ihrer erotisch angehauchten Erzählungen ausleben konnte. Mit Lisa erfahren wir die Freude der Gewissheit, ein Geheimnis vor der Welt zu haben, das sie in Form des Halsbands im Verborgenen mit sich trägt – wir werden gewissermaßen zu Komplizen, was den Reiz nur noch erhöht. Und die ausladenden, farblich atmosphärischen, expressiven Zeichnungen… sind teilweise echt scharf. Ok, das geben wir auch zu. Der vorliegende Band erscheint im passend nobel aufgemachten Großformat in Paninis Albenreihe und wird ergänzt um einen ausführlichen Bonus-Teil mit weiteren Pin-Ups sowie einem kleinen Nachwort, das Sejic als eigenen Comic inszeniert. Elegant, sexy, faszinierend. Wir hoffen auf eine Fortsetzung. (hb)

Sonnenstein, Band 1
Text & Bilder: Stjepan Sejic
132 Seiten in Farbe, Hardcover
Panini Comics
24,99 Euro

ISBN: 978-395798-459-3

 

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