London 1876 – die Stadt wird von einer Reihe scheinbar grundloser Entführungen heimgesucht. Die Opfer gehören zu den besseren gesellschaftlichen Zirkeln, Lösegeldforderungen gehen nicht ein, es fehlt jede Spur. Scotland Yard tappt vollkommen im Dunkeln, bis die Verzweiflung so groß ist, dass man dem Vorschlag von Inspektor Colin Pike folgt, den eigenwilligen Privatdetektiv Sherlock Holmes als Berater zu engagieren. Der nicht gerade sehr sozialfähige Holmes hat sich gerade seine ersten kriminalistischen Sporen verdient und wohnt in einer seltsamen häuslichen Gemeinschaft mit Ron Jantscher, einem österreichischen Geigenvirtuosen. Als dieser ebenfalls den Entführern in die Hände fällt, sieht sich Holmes mehr als nur intellektuell angespornt, der Sache auf den Grund zu gehen.
Schnell stellt sich heraus, dass hinter den Verbrechen die Familie Moriarty steckt, die die Londoner Unterwelt im knallhaften Würgegriff regiert und auch in ihren eigenen Reihen ein gnadenloses Regime führt. Vater Henry Moriarty herrscht mit seinem Sohn James, mit dem er nicht gerade zimperlich umgeht, und verfolgt mit den Kidnappings wie von Holmes schon vermutet ein übles Geschäftsmodell: als Holmes ihm auf die Schliche kommt, wird er kurzerhand selbst ins Gewölbe der Missetäter, die „Fabrik“, verschleppt, wo er seinen Mitbewohner auf einer Art elektrischem Stuhl wiedersieht. Durch futuristisch-elektrische Technik können sich dort zahlungskräftige Kunden gewaltsam die geistigen, künstlerischen und charakterlichen Fähigkeiten des dafür zielgerichtet „besorgten“ Gegenübers aneignen – mit dem kleinen Haken, dass der „Spender“ die Prozedur nicht überlebt und im Ofen Moriartys endet. Natürlich bietet auch Holmes selbst mit seiner überlegenen Kombinationsgabe eine dankbare Ware für diesen brutalen geistigen Menschenhandel. Doch die Lumpensöhne haben die Rechnung ohne Holmes‘ Erfindungsreichtum gemacht – und vor allem ohne Tyron, einen ehemaligen Spießgesellen Moriartys, der sich auf die Seite von Scotland Yard schlägt, Holmes zur Flucht verhilft und die Fabrik dem Erdboden gleichmacht. Als Isabel, eine abseitige Getreue Moriartys, den Yard infiltriert, kommt es aber zur Katastrophe…
Derzeit erlebt der „hochfunktionale Soziopath“, der mit der Wissenschaft der Deduktion brilliert, eine wahre Renaissance – neben den Hollywood-Streifen mit Robert Downey jr. (cool), den TV-Serien „Elementary“ (USA, verzichtbar) und „Sherlock“ (BBC, man kann nicht anfangen zu beschreiben wie genial das ist) durchstreift der Detektiv mit Deerstalker-Mütze und Pfeife auch die franko-belgische Comicwelt, zuletzt etwa in Sylvain Corduriés Conan Doyle/Lovecraft-Melange „Sherlock Holmes und das Necronomicon“ oder als wunderbare Parodie in „Baker Street“ (dt. bei Piredda). In „Crime Alleys“ legt Corduriés jetzt das vor, was im Superhelden-Genre gerne als Origin-Story bezeichnet wird: hier erleben wir die Anfänge von Holmes‘ Karriere, die üblichen Versatzstücke wie Mütze, Drogen, Baker Street und vor allem ein gewisser Dr. Watson fehlen noch vollständig; nur die allgegenwärtige Pfeife und das Geigenspiel sind bereits an Bord. Wurde Holmes im Vorgängerband noch mit der Geisterwelt des Totenbuchs konfrontiert, sieht er sich hier einem mad scientist gegenüber, der Victor Frankenstein in nichts nachsteht – wobei das Grundkonzept, den Geist eines Menschen in ein anderes Gehirn zu übertragen, ein durchgängiges Motiv der Horror-SF darstellt, vom Karloff-Vehikel „The Man who changed his mind“ bis zum Steve Martin-Gagfest „Der Mann mit zwei Gehirnen“.
Die Handlung entwickelt Cordurié weniger im für die Conan Doyle-Vorlagen typischen Detektivroman-Muster (wir verfolgen die Ermittlungen, der Täter wird erst am Ende entlarvt – so auch bei Agatha Christie und Edgar Wallace), sondern eher in der typischen Krimi-Ausprägung (der Täter ist von Anfang an bekannt, es geht nur darum, wie er geschnappt wird – siehe moderne Thriller wie Das Schweigen der Lämmer), wobei das Action-Horror-Element durchaus ausgeprägt ist. Wie es sich für einen ordentlichen Antihelden gehört, erlebt Holmes einen Schicksalsschlag, der ihn schließlich dazu veranlasst, so zu werden, wie wir ihn später alle kennen und schätzen – der Tod nahestehender Menschen intensiviert seine immer angelegten, seltsam-amüsanten Züge ins Äußerste. Inszeniert wird das Ganze von Alessandro Nespolino in atmosphärisch-stimmigen Panels, die das Lokalkolorit der viktorianischen Metropole gekonnt einfangen, etwa mit einer Queen-Büste bei Scotland Yard, durchaus realistischen Darstellungen der weniger vornehmen Viertel der Stadt oder auch mit nahezu filmischen Kamerafahrten und Montagen. Insgesamt eine schmissige, mitreißende Vision der frühen Tage des Detektivs, die mit jeder Menge Einfallsreichtum, einer packenden Story, feinem Gespür für die Epoche, einer Prise Grusel und Serienkiller-Flair aufwartet. Bei Splitter gibt es beide Teile im Double-Doppelpack. (hb)
Sherlock Holmes – Crime Alleys
Text: Sylvain Cordurié
Bilder: Alessandro Nespolino
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-133-8