Sequana (Splitter)

März 19, 2015

Sequana (Splitter)

Anfang 1910 wurde Paris von einer verheerenden Katastrophe heimgesucht. Nach tagelangem heftigstem Dauerregen schwoll die Seine massiv an und setzte nach und nach 12 von 20 Arrondissements unter Wasser – und das bis zu sechs Wochen lang. Auch mit Hilfe der Metro breitete sich die Jahrhundert-Flut aus. Es regnete und schneite beständig weiter. Die Stadt war praktisch von der Außenwelt abgeschnitten. Die Versorgungslage prekär. Kein Strom. Eine Extremsituation für alle Pariser.

Seine Exzellenz Monsignore Emmanuel Chelles ist Bischof von Notre Dame. Die extreme Überschwemmung löst bei ihm nach und nach apokalyptische Sintflut-Visionen aus. Nur mühsam kann sein Adjudant Petillot, ein ehemaliger Soldat, ihn ihm Zaum halten. Alice Treignac, eine Arzttochter, ist eine ehrgeizige Studentin. Sie möchte – als Frau damals eine Unding – Ärztin werden. Sie hat einen Verehrer, Thibaut. Sohn des Kommissars und ebenfalls angehender Arzt. Dann ist da noch Jean Faure, ein flüchtiger Mörder, der Paris unbedingt verlassen will. Ein wegen der Flut praktisch unmögliches Unterfangen. Langsam aber stetig und immer dramatischer verknüpfen sich die Wege dieser Protagonisten. Bischof Chelles ist ein Patient von Alices Vater. Die trifft dann den verletzten Jean, versucht ihm zu helfen, wird aber von ihm entführt. Später kommen sie sich näher. Thibaut sympathisiert um das Wohl von Alice wegen mit Jeans Kompagnons. Dann findet Jean Unterschlupf bei Petilllot und Chelles. Dort eskaliert die Situation völlig, das Schicksal von Jean scheint besiegelt. Und über allem herrscht die Flut, allgegenwärtig und unbarmherzig.

Die Seine mit ihrer massiven Überschwemmung ist der eigentliche Star des Bandes. Überall, in Straßen und Häusern, außen und innen steht das Wasser und bestimmt den Alltag. Regen, Schnee und Nässe sind ständige Begleiter des Lebens der Pariser Bürger, der Armen wie der Reichen, der Aufrechten, wie der Halunken. Der Verlag bezeichnet der Band als Stadtchronik. Das mag ein wenig hoch gegriffen sein. Vielmehr werden beispielhaft die Schicksale einiger Personen während der Flut geschildert und verknüpft, Personen die sich unter normalen Umständen so wohl nie getroffen und interagiert hätten, deren Leben aber in diesen Tagen entscheidend beeinflusst werden. Und: ein wenig Geschichts-Recherche zur damaligen politischen Lage schadet bei der Lektüre nicht, ich zumindest musste bei Begriffen und Namen wie Marc Sagnier, Le Sillon oder Camelots du Roy den freundlichen Wikipeter bemühen (die Chronologie am Ende des Bandes erklärt diese Begriffe aber auch kurz & bündig).

Zeichnerisch trumpft ‚Sequana’ ganz groß auf. Stéphane Perger, der mit ‚Sir Arthur Benton’ (3 Bände, noch nicht auf Deutsch) bekannt wurde und bei Splitter schon in dem Double-Band ‚Scotland Yard’ seinen außergewöhnlichen Zeichenstil präsentierte (wir berichteten HIER), zeigt hier sein ganzes Können: seine gemalten Bilder sind stets stimmig, mal bunt, mal der trüben Atmosphäre entsprechend düster. Dazu bedient er sich zahlreicher comic-relevanter Stilmittel. So wird eine Schlüsselszene über mehrere Seiten nicht nur ohne Worte präsentiert, die Panels auf der entscheidenden Seite sind auch wie ein Strudel angeordnet. Die ganz in gelb gehaltene Episode mit Jean und Alice im überschwemmten Pariser Untergrund ähnelt mit ihrem Licht-Schatten-Spiel einer viragierten Szene aus einem expressionistischen deutschen Stummfilm. Dann illustriert Perger ganz ohne Panels mit weißem Hintergrund eine Verfolgungsjagd, die so reduziert auf die Darstellung der Personen eine wunderbare Dynamik erfährt. Dazu gesellen sich großformatige Draufsichten, Totalen, wie die ganzseitige Spiegelung der Kathedrale Notre Dame in den sie umgebenden Wassermassen oder die Protagonisten, die im Keller versteckt um einen Tisch versammelt sind.

Und Sequana? Das ist der alte lateinisch-keltische Name für die Seine. Der Fluß wird von den Autoren ebenfalls als Stilmittel benutzt, indem er selbst unheilschwangere Monologe hält und den Monsignore konsequent in den Wahnsinn treibt. Im Original erschien die Geschichte in drei Einzelbänden, und Splitter beweist hier wieder ein gutes Händchen (wie schon u.a. bei Appartement 23), indem der Verlag die Integrale-Ausgabe im Großformat und nicht im Graphic-Novel-typischen Buchformat veröffentlicht. So kommen die Bilder bestens und unverfälscht zur Geltung. Ein großartiger Band, künstlerisch absolut edel wie wertvoll. (bw)

Sequana
Text: Léo Henry
Bilder: Stéphane Perger
160 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
29,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-045-4

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