Eden, ein kleines Städtchen in Wyoming mit gerade mal 2200 Einwohnern. Aber die haben es in sich. Denn die Bürger von Eden – zumindest die meisten von ihnen – waren einst Kriminelle und Verbrecher. Hier in dieser geschlossenen Gesellschaft bekommen sie keine zweite, sondern ihre letzte Chance. Deshalb gilt hier die Maxime: keine krummen Dinger mehr und sich absolut nichts zu Schulden kommen lassen. Laura Shiffron, die Bürgermeisterin von Eden, setzt dies resolut durch, wobei die Strafen drastisch sind. Lauras Sohn ist Mark. Er ist der Postbote des Ortes und hat das Asperger Syndrom, weshalb er gerne Zielscheibe von Spott ist. Auch seine Mutter behandelt ihn nicht sonderlich liebevoll, ja sie lässt ihn regelmäßig ihre Abneigung spüren.
Mark hat aufgrund seiner „Störung“ Probleme mit Empathie – er sagt gerne frei raus, was er denkt, besitzt aber auch eine scharfe Kombinations-Gabe, deren logische Folgerungen er gerne emotionslos zum Besten gibt. Und er kann auch Körpersprache deuten, weshalb er Lügen erkennt und ihm Dinge auffallen, die anderen verborgen bleiben. So entdeckt er zu Beginn eine Drogenhöhle, was jedoch nur der Auftakt zu Ereignissen ist, die die Gemeinschaft in Eden nachhaltig zu erschüttern drohen. Denn eine in Plastik eingehüllte Leiche einer unbekannten jungen Frau wird gefunden. Und Mark wird schnell klar, dass nicht nur seine Mutter etwas über die Tote weiß, er erkennt bald, dass der mysteriöse Mordfall auch ihn direkt betrifft…
Eine interessante Prämisse: der vermeintliche paradiesische Ort, in dem ehemalige Verbrecher leben (die „Kartei“ am Ende des Bandes gibt hier einen interessanten Einblick, was die Protagonisten so auf dem Kerbholz haben). Wie und warum Eden gegründet wurde und warum es geduldet wird, wissen wir noch nicht. Die Bürger und Bürgerinnen tun hier alles, um nicht aufzufallen und keinen elektronischen Fußabdruck zu hinterlassen: Handys sind verboten, man zahlt nur mit Bargeld. Und die Bürgermeisterin, die ihrem Sohn so seltsam ablehnend gegenüber tritt, wacht mit harter Hand über die Stadt. Mark ist dabei eine nicht weniger interessante Hauptfigur. Gerne als „Spasti“ beschimpft, nimmt ihn niemand wirklich ernst, wobei er als Postbote jeden kennt – wie auch umgekehrt. In die Kellnerin Maggie verschossen (hinter der auch mehr steckt als es den Anschein hat), steht er bald und unfreiwillig im Mittelpunkt des Geschehens, das schwere Schatten auf ihn wirft.
Die Autoren Matt Hawkins (gleichzeitig auch einer der Chefs von Top Cow, wo die Serie ab 2015 erschien) und Bryan Hill erinnern mit ihrem isolierten Setting (Verbrecherstadt Eden), der Frauenleiche in Folie, dem ungewöhnlichen Ermittler und der monströsen Gefahr nicht von ungefähr an die TV-Kultserie „Twin Peaks“, freilich ohne deren Komplexität zu erreichen, was jedoch keinen Makel darstellt. Auch in „Postal“ werden die verschiedenen Charaktere näher beleuchtet, wie auch deren Leichen im Keller, was jeglicher Langeweile vorbeugt, zumal die Story gradlinig und in prägnanten Dialogen erzählt wird. Wie es mit Mark und dem Bösen, das in die Stadt zu kriechen scheint, weiter geht, wird sich zeigen. Band 2 ist bereits in Kürze erhältlich.
Der New Yorker Zeichner Isaac Goodhart, der bei einer hauseigenen Top Cow Talentsuche von 2013 „entdeckt“ wurde und der inzwischen auch für DC tätig ist, inszeniert die Story in einem unaufgeregten Stil, der sich in Marks stoischem Blick wiederspiegelt. Wobei auch durch die Farbgebung eine stetige kühl-düstere Atmosphäre mitschwingt. Die Serie erscheint bei Skinless Crow, einem neuen in der Schweiz ansässigen Verlag, der sich laut Homepage auf unbekannte Comic-Perlen, vornehmlich aus den USA, konzentrieren will. Und das in jeweils kleiner Auflage (Band 1 von „Postal“ ist auf 333 Exemplare limitiert und beinhaltet die ersten vier US-Hefte). Außerdem bringt der Verlag Graphic Novels über Metal-Bands bzw. deren Werke, wie Dio und Anthrax‘ Klassiker „Among the Living“ – dazu in Kürze mehr. (bw)
Postal, Band 1
Text & Story: Matt Hawkins, Bryan Hill
Bilder: Isaac Goodhart, Betsy Gonia (Farben)
104 Seiten in Farbe, Hardcover
Skinless Crow
29,50 Euro
ISBN: 978-3-03963-000-4
