Madame Yvonne Lhermitte ist 80 Jahre alt. Und rüstig, wie man so schön sagt. Körper und Geist funktionieren demnach noch in einem zufrieden stellenden Maße. Dennoch fasst Yvonne einen schweren Entschluss, der gleichzeitig noch einmal eine große Veränderung in ihrem Leben bedeutet: Sie geht ins Seniorenheim. Auch präventiv. Das Haus, in dem sie über 50 Jahre mit ihrem kürzlich verstorbenen Mann lebte, wird verkauft, auch im Sinne ihrer Kinder und Enkel. Im Heim fühlt sie sich anfangs unterfordert, schließlich ist sie verglichen mit anderen Mitbewohnern noch topfit. Und sie fühlt sich trotz Gesellschaft einsam. Ihre Kinder und Enkel besuchen sie zwar, dennoch findet sie keinen rechten Sinn in ihrem Dasein hier. Was sich langsam ändert, ausgerechnet dadurch, weil sie die Schrulligkeiten und Macken ihrer „Leidensgenossen“ aufnimmt und mitmacht. Und dann lernt sie noch Paul-François kennen, den Heimcasanova, der ihr unverhohlen Avancen macht…
Séverine Vidal und ihr Zeichner Víctor L. Pinel präsentieren hier einen Band, in dem wieder Senioren die Hauptrolle spielen – zuletzt kein Einzelfall, was Comics wie „Monsieur Vadim“, „Antananarivo“ und natürlich „Die alten Knacker“ beweisen. Ihre Heldin Yvonne ist einerseits noch lebenslustig – sie geht mit ihren Mitbewohnern beschwingt und humorvoll um, auch zum Leidwesen der Pfleger – andererseits wird sie immer wieder von Melancholie und Traurigkeit erfasst, was Vidal und Pinel in ganzseitigen Bildern darstellen, die mit ganz persönlichen Gedanken Yvonnes in der Ich-Form unterlegt sind. Sie wagt noch einmal den titelgebenden Sprung ins kalte Wasser, um dort neues Leben und neue Ziele zu finden, was sich anfangs als nicht leicht erweist. Gewohnheiten aufzugeben fällt eben schwer. Erst recht, sich bewusst für einen neuen Lebensabschnitt zu entscheiden, zumal man schon 80 ist und der Kommende vielleicht der letzte sein mag. Dennoch findet Yvonne ihre Nische im Heim auch wenn sie dabei immer ein Wenig zur heimlichen Rebellin wird.
Pfleger, die sich Zeit für die Alten nehmen, die Empathie zeigen, schrullige aber harmlose Mitbewohner, die gerne Witze auf die eigenen Kosten machen und die sich ihre eigenen Abenteuer suchen – wie immer diese auch geartet sein mögen, das klingt alles ein wenig märchenhaft und erfunden. Aber es ist schön erfunden und zeigt auch was sein sollte: Menschen, die im Alter Spaß haben können und sollen und die Konventionen durchbrechen. Die Sex haben und sich ihrer Körper nicht schämen. Durchzogen sind die von Yvonne bestimmten Episoden auch immer wieder durch bittere oder bittersüße Momente, eben wenn ein lange erwarteter Besuch absagt und Trost von ganz anderer Stelle kommt, oder wenn erste Aussetzer des Gedächtnissen Erinnerungen an vergangene, schöne Zeiten blockieren. Víctor L. Pinel, dessen Stil denen von Sylvain Vallée oder Paul Cauuet nicht unähnlich ist, zeichnet seine Senioren einfühlsam, betont dabei Mimik und Gestik und lässt, wo es geht, Bilder statt Worte sprechen. 15 Seiten Skizzenbuch beenden den überaus gelungenen Band. (bw)
Ins kalte Wasser
Text & Story: Séverine Vidal
Bilder: Víctor L. Pinel
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
22 Euro
ISBN: 978-3-96721-040-2