Univerne, Band 1 (Splitter)

August 16, 2013

Univerne, Band 1: Paname

Sobald man im Zeitalter vor Harry Potter das lesefähige Alter erreicht hatte, ging der übliche Griff ins Buchregal zu Karl May. Dort vergnügte man sich dann mit Winnetou und seinen edlen Gesellen, oder wahlweise mit den Reisen eines Herrn Omar durch Klein- und Großasien. Und sonntags kamen dazu die Filme mit Pierre Brice und Lex Barker. Ich tat das nicht, bis heute habe ich keine Zeile Karl May gelesen und bin sehr zufrieden damit. Denn mein Held kam nicht aus Ostdeutschland und fabulierte über einen Westen, den er nie gesehen hatte. Nein, mich faszinierte Jules Verne. Der schrieb zwar auch über Dinge, die er nie gesehen hatte – aber schlichtweg, weil es die zu seiner Zeit nicht gab oder unerreichbar waren. Und wie langweilig schienen die Cowboy und Indianer-Geschichten gegen die fantastische Welt, die Jules Verne ausbreitete, vom Mittelpunkt der Erde bis zum Mond und durchs Sonnensystem, mit U-Booten durch die Weltmeere und mit Luftschiffen durch den Himmel – und alles weit weg von jeder reinen Spekulation, sondern so präzise in den damals bekannten naturwissenschaftlichen Spielregeln verankert, dass die Nautilus des Kapitän Nemo, das Luftschiff von Robur dem Eroberer und sogar der Mondflug (die Tatsache dass man später dann nicht aus Kanonen schoss, sondern Raketen bemühte, und die Kapsel nicht unbedingt eingerichtet war wie ein viktorianisches Wohnzimmer, lassen wir beiseite) visionär-realitätsgetreu in fast jedem Punkt später Wirklichkeit wurden. Zu verdanken hatte Jules Verne seinen Erfolg seinem wachen Geist, seiner mitreißenden Erzählkunst – und einem Mann, der ihm eine Chance gab: der Verleger Pierre Jules Hetzel, der als einziger bereit war, Vernes Erstling Fünf Wochen im Ballon zu drucken, nachdem zuvor dutzende Verlagshäuser das Manuskript abgelehnt hatten.

Und genau hier setzt nun dieses geniale Werk von Jean David Morvan (Spirou, Sillage) und Alexandre Nesmo an: denn anstelle einer Künstlerbiographie oder einer Comic-Adaption eines Verne-Romans zeichnet Univerne das Bild einer faszinierenden Parallelwelt, in der Jules Verne niemals Schriftsteller werden konnte, weil Hetzel in den politischen Wirren von 1851 auf der Flucht umkommt. Seine utopischen Ideen bringt Verne somit nicht zu Papier, sondern er setzt sie in die Tat um: zusammen mit den führenden Intellektuellen und Wissenschaftlern seiner Zeit baut er Univerne, die Zukunftsstadt, gelegen auf der Insel Lincoln irgendwo im Pazifik. Dort herrschen Freigeisterei, technischer Fortschritt, Gleichberechtigung der Frauen, Sozialismus und sonst noch so einiges, was den politischen Mächten um Univerne herum ein Dorn im Auge ist. Flugs attackiert die internationale Koalition die Insel, raubt die Erfindungen, um mit ihnen die industrielle Revolution herbeizuführen, verhaftet die Bewohner, und auf der Weltausstellung 1900 sind die Errungenschaften des Mannes, der sich Nemo nennt, zu bestaunen. Die junge Journalistin Juliette Henin bekommt am Vorabend der Eröffnung die Möglichkeit, die inhaftierte Fraysse de Viane, Feministin und Ehefrau von Jules Verne/Nemo, zu interviewen. Dabei steckt ihr Viane eine „Disskätte“ zu, die entscheidende Informationen über Univerne enthält. Auf der Weltausstellung präsentiert dann ein völlig durchgeknallter Tesla seine neueste, noch von Verne beauftragte Erfindung: Teslavision, dank dessen die Welt nun Nachrichten zu Hause empfangen kann. Der Eiffelturm aktiviert indes über elektrische Entladungen geheimnisvolle Kampfmaschinen, die Juliette angreifen, um an die Diskette zu gelangen. Widerstandskämpfer aus der freien Kommune Montmartre machen sich mit ihr auf die Suche nach einem „Pezeh“, um die Diskette lesen zu können.  Den Cliffhanger jedoch bildet eine kurze Sequenz, in der einige Aliens sich um einen offenbar schwer erkrankten Menschen bemühen – vermutlich Nemo – wobei die Szenerie gegen Ende als der Mond offenbart wird…

Morvan und Nesmo packen Univerne so voll mit Anspielungen auf das Werk des Visionärs, dass es eine Freude ist: da pflügen Luftschiffe durch den Himmel, es gibt erste Ansätze von Elektronik, Tesla erfindet das Fernsehen, und offenbar ist der Sprung in den Weltraum gelungen. Dazu gesellen sich wundervolle Querverweise auf moderne Propaganda – die Weltmächte verkaufen – per neuem Medium Fernsehen – ihre Invasion der Insel, die lediglich die Technik rauben und die unliebsame Ideologie zermalmen soll, als Gegenschlag gegen angebliche, dort konstruierte Massenvernichtungswaffen. Und das kennen wir aus nicht allzu langer Vergangenheit doch bestens, oder? Wer also in jungen Jahren wie ich atemlos die Abenteuer der Verne’schen Helden verfolgt, den erwartet hier ein komplexes, stets faszinierendes Lesevergnügen. Und die Karl-May-Fraktion, die kann sich ja auch heranwagen. Band zwei, Big Apple, ist gottlob in Vorbereitung. Insgesamt sollen es drei werden. (hb)

Univerne, Band 1: Paname
Text: Jean-David Morvan
Bilder: Alexandre Nesmo
48 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
13,80 Euro

ISBN: 978-3-86869-519-9

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