Plötzlich tauchen sie auf, die Geister der Toten. An genau den Orten, an denen sie starben. Wie Lichtsäulen stehen sie da, fast unbeweglich, das Gesicht immer der Sonne zugewandt. Und täglich erscheinen mehr Geister auf der Welt, inzwischen bereits von jenen, die vor drei Jahren gestorben sind. Transparent und Hologrammen gleich kann man durch sie hindurchgehen, weshalb man sich schon fast an sie gewöhnt. Vor drei Jahren verloren die Schwestern Rain und Emma Mazursky ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz in der spanischen Wüste Desierto de Tabernas, nördlich von Almeria. Jetzt, um ihre Trauer zu bewältigen und um einen Abschluss zu finden, reisen die beiden zur ehemaligen Absturzstelle und warten dort auf die „Ankunft“ der Geister der 94 Opfer, darunter ihre Eltern. Doch nur 82 erscheinen. Schlimmer noch. Die Geister beginnen plötzlich zu lachen. Ein tödliches Lachen, wie sich bald herausstellen wird.
Rain und Emma gelingt es gerade so, von der Geistergruppe zu entkommen. Sie treffen auf den jungen Norweger Tyler, der seine Freundin sucht, die ebenfalls in dem Flugzeug gewesen ist. Sie, bzw. ihr Geist, ist einer der zwölf fehlenden. Lebt sie also noch? Bald wird das Trio von einer Söldnertruppe verfolgt und kommt zu einem einsam gelegenen Haus, das ein erstes Geheimnis birgt. Rain, Emma und Tyler erfahren nach und nach mehr über die regelmäßigen „Smilewaves“ der Geister, die Millionen Menschen in ihrer Nähe töten (welche dann wiederum als Geister auftauchen). Und über das dunkle Schicksal von Tylers Freundin, das das Trio schließlich bis nach New York führen wird…
Nach „Das Fleisch der vielen“ adaptiert Jurek Malottke in seiner zweiten, umfangreicheren Graphic Novel erneut ein Werk von Autor Kay Meyer, dessen Romane bereits des Öfteren und erfolgreich ihren Weg in die Comics nahmen (u.a. „Das Wolkenvolk“, „Der Speichermann“, „Die Krone der Sterne“). Anders als in Malottkes Erstling finden wir hier keinen subtilen Horror vor, der auf einen abgeschlossenen Ort beschränkt ist (das leerstehende Hotel in Leipzig). Vielmehr breitet sich der Horror hier auf der ganzen Welt aus – erst sichtbar für alle, dann alle betreffend – und wird dadurch zur schrecklichen Gewohnheit und damit alltäglich. So finden in „Phantasmen“ auch andere Genres Einzug und tragen die Story. Über allem steht dabei natürlich das originelle Grund- und Gruselmotiv der scheinbar grundlos auftauchenden und seltsam passiven Geister, die zumindest zu Beginn einfach nur da sind. Bald gesellen sich Science Fiction-, Action- und Thriller-Elemente dazu, wobei sich die Story zu einem Roadtrip entwickelt, der Tyler, Rain und Emma schließlich zum großen Showdown über den Atlantik führt.
Auch wird den Protagonisten eine Vita gegeben, die der Handlung Tiefe verleiht. Die beiden Schwestern wurden mit einem Male zu Vollwaisen, wobei die 19-jährige Rain ist durch ein Erlebnis in Afrika traumatisiert ist. Emma ist zwei Jahre jünger, lebte bei den Großeltern, glänzt mit flapsig treffenden Bemerkungen und ist etwas eigen, was im Verlauf der Geschichte noch wichtig werden wird. Und mit Tyler kommt ein jugendlicher, draufgängerischer Charakter ins Spiel, der offenbar nicht sein ganzes Wissen preisgibt und den eine geheimnisvolle Aura umgibt, die die beiden jungen Frauen in ihren Bann zieht. Und der sein Ziel – das Schicksal seiner Freundin aufzuklären – beharrlich und wider aller Gefahren verfolgt.
Jurek Malottke zeigt hier einen ganz anderen zeichnerischen Ansatz, als in „Das Fleisch der vielen“ und beweist damit ein feines Gespür für die Story. Arbeitete er in „Das Fleisch…“ konventioneller mit Tuscheeinsatz und gediegenen, meist dunklen Farben und monochromen Szenen, ist das Farbspektrum hier ungleich größer und plakativer. Was bleibt ist auch hier eine gewisse Abstraktheit und Skizzenhaftigkeit, wobei er dennoch eine beeindruckende Detailgenauigkeit und dynamisch ausdrucksstarke Panels und Personen erzeugt. Dabei fehlen auch nicht filmisch inszenierte Suspense-Szenen, wie die mit der Orange im Eisenbahn-Waggon oder die Landung des Flugzeugs. Und der Vorbeiflug am World Trade Center und damit an den in der Nacht leuchtenden Geistern der Opfer von 9/11 ist dann schon ein Stück realer Horror. Neben dem regulären Band bietet Splitter eine limitierte Vorzugsausgabe mit Variant-Cover an, der ein signierter Druck beiliegt. (bw)
Phantasmen
Text: Kai Meyer, Jurek Malottke
Bilder: Jurek Malottke
240 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
35 Euro
ISBN: 978-3-96792-214-1
ISBN: 978-3-96219-311-9 (limitierte VZA)
