Fagin. König der Diebe. Der hässliche Unsympath aus Oliver Twist, der die Kinder ausnutzt. Fagin, der Jude. Will Eisner hat sich in seinem vorletzten großen Werk mit der durchaus umstrittenen Figur aus dem berühmten Roman-Klassiker von Charles Dickens beschäftigt, Fagins Leben aufzeichnet und erzählt so einmal für Leser des Buches Neues und zum anderen Altbekanntes, das er aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.
Moses Fagin wächst in den Gassen Londons auf. Sein Vater bringt ihm kleine Betrügereien bei, Tricks, wie man auf der Straße an ein paar Kröten kommt. Die fast mittellose Familie gehört wie viele andere Juden ohne jegliche Aufstiegsmöglichkeiten zum Bodensatz der Gesellschaft. Manchen Juden mag es gelingen, ein Vermögen zu machen. Im Ansehen aufzusteigen oder gar politische Ämter zu bekleiden, bleibt aber auch ihnen verwehrt, weshalb sich viele der reichen Juden taufen lassen. Nach dem Tod seiner Eltern scheint Fagin zuerst das Glück hold zu sein. Er wird Hausdiener bei einem vermögenden Juden. Nach einigen Jahren wird ihm eine nicht standesgemäße Liebschaft zum Verhängnis. Fagin verliert seinen Job und landet wieder auf der Straße. Er sinkt immer tiefer und wird in einen Raubmord verwickelt. Das Urteil: zehn Jahre Verbannung in Übersee. Auch dort hält er sich mit Tricks und Betrügereien über Wasser, da seine ehrlichen Absichten nicht fruchten oder hintergangen werden. Zurück in London wird er zu dem Gauner, den wir aus dem Roman kennen.
Szenenwechsel. Der Waisenjunge Oliver Twist ist neu in London und landet bei Fagin. Der bildet ihn alsgleich zum Gauner aus und schickt ihn auf die Straße. Nach einem Zwischenfall landet er bei dem angesehenen und vermögenden Mr. Brownlow. Für eine Weile scheint es, als käme er weg von der Gosse. Bis Sikes, Fagins brutaler Partner, ihn wieder aufspürt. Dann wird Oliver bei einem Einbruch angeschossen. Wieder scheint er Glück zu haben, wieder wird er von einer vermögenden Familie, den Maylies, aufgenommen. Und erneut versuchen Sikes und Fagin ihn zu finden, um zu vermeiden, dass sie von ihm verraten werden. Und dann ist da noch der mysteriöse Mr. Monk, der Kontakt zu Fagin sucht und mehr über Olivers mysteriöse Herkunft zu wissen scheint…
Will Eisner (1917-2005) ist unbestritten einer der Giganten des Comics. Berühmt wurde er bereits in den Vierzigern durch seinen Spirit, der gerade bei Salleck als preisgekrönte Gesamtausgabe erscheint. Später war er für die Entwicklung und Etablierung des Genres der Graphic Novel beinahe im Alleingang verantwortlich. Einige seiner bekanntesten Erzählungen sind in drei dicken Sammelbänden zusammengefasst, die im Carlsen-Verlag erscheinen. Eisners letztes großes Werk, ‚Das Komplott‘, das sich einmal mehr mit seiner Religion, dem Judentum, beschäftigt und gleichzeitig mit einer perfiden Legende aufräumt, wurde bei DVA veröffentlicht.
In seinen früheren Spirit Geschichten taucht die Figur des Ebony auf, ein für die damalige Zeit typischer Klischee-Schwarzer, der nicht nur bereits durch den Namen diverse Vorurteile auf sich vereint. Später, als Eisner reifer und älter wurde, wandelte er die Figur ab, entfernte deren Karikatur-hafte Eigenschaften. Auch die Figur des Fagin war zuerst das Abziehbild eines Juden, wie ihn die damalige Gesellschaft sah. Hinterhältig, unehrlich, ausnutzend, böse. Von entsprechend abstoßender Gestalt. Und auch Fagin wurde später von Dickens selbst ‚abgemildert‘. Jetzt stellt Eisner das Image des jüdischen Hehlers ins richtige Licht, indem er einen erzählerischen Kniff benutzt: als Rahmenhandlung lässt er den in seiner Zelle auf die Hinrichtung wartenden Fagin direkt zu Charles Dickens sprechen. Er berichtet sein Leben und beschwert sich über die verzerrte, klischeehafte Darstellung seiner Person, redet dem Autor ins Gewissen.
Eisner stellt Fagin als Gescheiterten dar. Als einen, der auf dem rechten Weg bleiben wollte, der aber aufgrund seiner ‚niederen‘ Herkunft und durch die Umstände gezwungen wurde, das zu werden, was er dann auch wurde: ein Gauner, ein Hehler, der jungen Obdachlosen und Waisen Unterschlupf gewährte, die für ihn Diebesgut beschafften. Im Epilog, den ein erwachsener Oliver erzählt und der bezüglich der Jugend Fagins ganz raffiniert nach Dickens-Art noch einmal diverse Fäden zusammenführt, erhält Fagin dann beinahe die vollständige Rehabilitation.
War Eisner wegen seiner Ebony-Figur ein Rassist? Sicher nicht. War Dickens deshalb ein Antisemit? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Das ist durchaus strittig. Möglicherweise ist die stereotype Darstellung der beiden Figuren der jeweiligen Zeit geschuldet, in der sie entstanden, ein Menschenbild, gedankenlos dargestellt, das immer wieder auftaucht und wuchert und so leider bis in die heutige Zeit reflektiert, wie die Beispiele von plumpen, schubladenhaften Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen aktuell zeigen. Insofern war Eisner mit seiner differenzierten Fagin-Betrachtung (die auch ausführlich im Anhang erläutert wird) einmal mehr ein Visionär seiner Zunft. (bw)
Ich bin Fagin – Die unerzählte Geschichte aus Oliver Twist
Text & Bilder: Will Eisner
144 Seiten in schwarz-weiß, Hardcover
Egmont Graphic Novel
19,99 Euro
ISBN: 978-3-7704-5521-8