Sechs aus 49, Band 1 (Schreiber & Leser)

August 4, 2014

Sechs aus 49, Band 1

Samstag abend in den 80ern: wenn man den Spielfilm im Ersten sehen wollte, musste man erst durch zwei Sachen durch – das Wort zum Sonntag und dann die Ziehung der Lottozahlen. Da stand dann immer eine adrett gekleidete Dame, begrüßte die Zuschauer, berichtete dass ein Notar sich vom ordnungsgemäßen Zustand des Ziehungsgerätes überzeugt habe, und dann fielen 49 Kugeln in ein wundersames rundes Behältnis. Dann kam die Zeit der ersten großen Jackpots, und mit ihnen auch gleich die Frage, ob das denn alles moralisch einwandfrei sei, dass irgend jemand da so viel Geld gewinnen könne, das sei doch alles nur Beutelschneiderei, ein Spiel mit der Hoffnung auf das (nahezu) Unmögliche, eine versteckte Steuer, die der Staat vor allem in den sozial ohnehin nicht so gesegneten Schichten eintreibe.

Mit genau diesem Aufhänger machte sich Thomas Cadène an ein Konzept, das gleich in mehreren Aspekten radikal innovativ ist. Der Handlungsanstoß ist dabei nur das, was bei Alfred Hitchcock der McGuffin war – die junge Studentin Mathilde wird von dem ihr fremdem Hippolyt gebeten, sie solle doch seinen Tippzettel vervollständigen, wenn sie gewinnen, erhält sie die Hälfte. Prompt fällt das Losglück in Form von 60 Millionen Euro auf das Zufallspaar, und nachdem sich Hippolyt tatsächlich an die Abmachung hält, sieht sich Mathilde auf einmal deutlich reicher und auch verwirrter. Um diesen Handlungskern entwickeln sich im Stile der endlos-TV-Serien mit einer durchaus stattlichen Anzahl an Beteiligten immer neue Episoden, die den Fokus jeweils auf einen anderen Aspekt von Mathildes Umwelt legen – da ist etwa der Vater Henri, ein verbissener Sozialist, für den es weniger ein Problem ist, dass sein Sohn Romain homosexuell ist, der es aber gar nicht begreifen kann, dass der Lebensgefährte des Filius den verhassten Konservativen angehört. Dann gibt es die Kommilitonen Camille und Emanuel, die ihrerseits in teilweise erotische Abenteuer verstrickt werden. Und dann natürlich Hippolyt selbst, der seinen geerbten Reichtum ablehnt und mit seiner Frau Faustine einen Neuanfang versucht. Mathilde indes gefällt ihr Doppelleben als mondäne Frau zusehends, so dass sie ihr Studium hinwirft und stattdessen diverse Affairen anfängt, während Romain gefeuert wird und vor dem beruflichen Ruin steht…

„Fortsetzung folgt“, so ist auch hier das Motto – wie in den klassischen Seifenopern wird am Anfang jeder Episode, die jeweils einen Aufmacher-Titel trägt (‚Danke für das Essen‘, ‚Natürlich muss man Lust dazu haben‘, ‚Ich sollte mich schämen, aber ich genieße es so!‘) die Besetzung vorgestellt, die Charaktere treten in unterschiedlicher Intensität auf, und die Geschichte schlängelt sich in Parallelen dahin. Cadène gelang zudem ein außergewöhnlicher Coup, indem jede einzelne Episode von einem anderen Zeichner gestaltet wurde – insgesamt 70 Künstler aus der franko-belgischen Schule trugen zur täglichen Reihe bei, die – und das ist gleich die nächste Revolution – kostenfrei im Internet zu lesen war (in Deutschland auf FAZ.net). Somit entsteht nebenbei eine Werkschau von illustren Kollegen wie Bastien Vivès (in Deutschland bekannt geworden durch seine Graphic Novel Der Geschmack von Chlor), Manuele Fior (in Band 2), Erwann Surcouf, Vincent Sorel und vielen mehr. Das zeichnerische Spektrum reicht dabei von feinen Tuschearbeiten über akzentuierten Bleistiftstrich bin hin zu minimalistischem Buntstift. Nachdem pro Episode nur wenige Seiten zur Verfügung stehen, kommt der Leser nicht nur in den Genuss zahlreicher Cliffhanger, sondern auch einer breiten Auswahl des aktuellen franko-belgischen Stils. Die Buchausgabe bei Schreiber & Leser enthält in schöner Aufmachung die ersten 25 Episoden und somit die komplette erste Staffel. Band 2 (‚Camille‘) und Band 3 (‚Arnaud‘) sind bereits erschienen. Band 4 ist in Vorbereitung. Eine Übersicht über die Bände/Staffeln und Episoden, sowie deren Zeichner findet man unter www.sechsaus49.de. (hb)

Sechs aus 49, Band 1
Text: Thomas Cadène
Bilder: Bastien Vivès, Erwann Surcouf, Vincent Sorel u.v.a.
216 Seiten in Farbe, Softcover
18,80 Euro

ISBN 978-3-943808-42-1

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