Schwarz ist sie, die Stimmung des lyrischen Ichs – in tiefer Trauer um seine verschiedene Angebetete Lenore hat er sich vor dem Kamin zurückgezogen und in alten, metaphysischen Büchern Trost gesucht. Da klopft es, herein flattert ein ebenso pechschwarzer Rabe, der sich auf die Pallas-Büste auf dem Kaminsims niederlässt. Der Sprecher tritt in einen erst amüsierten, dann immer dramatischeren Dialog, dessen Fragen der Besucher stets mit einem gekrächzten „Nimmermehr“ beantwortet – bis der Leidende davon überzeugt ist, dass der Rabe, wie der Schatten seiner Melancholie in nie mehr verlassen wird – eben auch „nimmermehr“.
Was sich rein rational als ein kleines Stück absurde Melodramatik liest, ist natürlich eines der genialsten Gedichte der Weltliteratur. Mit „The Raven“ lieferte der noch weitgehend unbekannte Edgar Allan Poe 1845 sein lyrisches Meisterwerk, das ihn nicht zuletzt durch eindrucksvolle Darbietungen durch den Autor selbst, vorgetragen in hypnotisch-suggestivem Singsang, auf einen Schlag bekannt machte. Das Gedicht brilliert durch eine magische Sprachmelodie und liefert ein Paradebeispiel für das, was Poe in seinen Kurzgeschichten gerne als das Makabre und „Arabeske“ bezeichnete – ein schauerhafter, atmosphärischer Gesamteindruck, der weit über dem Inhalt steht.
Letztlich ging es Poe nach eigenen Worten darum, dass die Poesie die „Unbestimmtheit des von einer süßen Melodie erweckten Hochgefühls“ erzeuge, ohne dies weiter zu ergründen – eben getreu dem Motto „art for art’s sake“. Dies gelingt im Raven formidabel, mit gehörigen Anspielungen auf die Alkohol- und Drogenproblem des Dichters, der sein kurzes Leben mit Schnaps und dem seinerzeit frei verfügbaren Laudanum vergeblich zu verschönern versuchte: nur vier Jahre nach seinem Erfolg mit dem Raben verstarb Poe unter mysteriösen Umständen. An einer nahezu unmöglichen Übersetzung des Gedichtes versuchten sich viele Federn, am nächsten kam dem Original wohl noch die Variante des Deutsch-Amerikaners Carl Theodor Eben von 1869, die auch die Basis für die hier vorliegende optische Untermalung des Textes bietet.
Treffend als „Illustriertes Gedicht“ betitelt, legen Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer (u.a. „Der zweite Mann“, „Heinrich Heine“) eine kongeniale Untermalung des Textes vor, der zunächst in der deutschen Übersetzung und dann nochmals im englischen Original in voller Länge enthalten ist. Auf jeder Seite findet sich jeweils eine Strophe, umrahmt von einer eindrucksvollen optischen Kombination des in aquarellhaftem Blau-Schwarz gehaltenen Besuchers und dem in rot erscheinenden Protagonisten, der sich als sprichwörtlicher „roter Faden“ durch Geschehen zieht. Ebenfalls in Rot gehalten sind die leitmotivischen Schlüsselwörter: „Lenore“, „Nevermore“, all das erscheint im Bilde ebenso wie die symbolträchtige Pallas-Büste.
Im englischen Teil dominiert dann vollends eine pechschwarze Gestaltung, die die Atmosphäre nochmals erdrückender macht. Damit die Sache allerdings nicht gänzlich ins Melancholische abdriftet, fügen die beiden Macher noch ein kleines Essay zu Poes Leben und Werk hinzu, wozu sich noch eine kleine Rehabilitation des oft geschmähten titelgebenden Raben gesellt, der in so mancher Kultur durchaus positiv als Götterbote und Weisheitsstifter besetzt ist – und dessen reales Vorbild für die Zeichnungen wohl im Heimattierpark Bielefeld wohnt.
Somit eine mehr als gelungene Umsetzung des Stoffes, den wir ja stets sehr gerne als Inspiration für diverse Grusel-Klassiker erkannten, vom alten Karloff/Lugosi-Schlachtross von 1935 bis hin zur spaßig-plüschigen Interpretation von Roger Corman, der 1963 unter der gleichen Flagge ein ganzes Zaubererduell ausrief – was natürlich allesamt außer dem Titel nichts mit dem Gedicht gemein hat (und was wir in den einschlägigen Videotheken Ende der 80er monatelang vergeblich suchten). Und dass die gute Gundel Gaukeley einen Raben namens Nimmermehr mit dabei hat, das berichten wir auch noch gerne. (hb)
Der Rabe / The Raven
Text & Story: Edgar Allan Poe, Gaby von Borstel
Bilder: Peter Eickmeyer
64 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
18 Euro
ISBN: 978-3-98721-452-3