Insgesamt vier längere Geschichten, die ab 2021 während der Pandemie entstanden, versammelt der aktuelle Band des japanischen Horror-Chefs Junji Ito. In „Trauerfrauenstraße“ machen Mako und Yuzuru, ein junges Paar, vor ihrer Hochzeit Urlaub und begegnen einer sogenannten Trauerfrau, die gerufen wird, um Verstorbene zu beweinen. Schnell wird Mako „angesteckt“, verfällt in eine unerklärliche Traurigkeit und beginnt unaufhörlich zu weinen. Als das Paar die Frau erneut aufsuchen will, landet es in einer bisher unbekannten Trauerfrauenstraße, wo man sich ganz der Heulerei widmet, damit die Toten die „Buddhaschaft“ erlangen. Was für die beiden der Beginn eines tränenreichen Albtraums bedeutet. Junji Ito zeigt hier einmal mehr das Normale – die Trauer und das Weinen -, das vermeintlich Harmlose, das durch hemmungslose und konsequente Übertreibung zum Absurden wird, zum ausgemachten Horror, der zum Finale hin noch einmal massiv eskaliert.
Weiter geht’s mit „Madonna“. Hier besucht die junge Maria ein christliches Mädcheninternat, das es in sich hat, vor allem in Person des Direktors und seiner Frau. Während dem Direktor diverse Seitensprünge nachgesagt werden, erscheint seine Gattin verbittert, hält sich offenbar für die Reinkarnation der Heiligen Jungfrau und lässt sich Madonna nennen. Bald entdeckt Maria, die nun auch vom Direktor belästigt wird, weitere furchtbare Geheimnisse des Internats (warum rieselt beispielsweise permanent Salz aus den Ohren der Lehrer und Schüler?), bis es zur erwarteten Katastrophe kommt. Hier zeigt Ito eine pervertierte Auslegung des Christentums, gepaart mit grenzenlosem religiösem Fanatismus, indem er u.a. die Geschichte Lots und seiner Frau aufgreift. Ein wilder Horror-Ritt, der zum Schluss etwas überfrachtet wirkt.
„Der Geisterfluss von Aokigahara“: Wir sind wieder in der Natur. Norio ist todkrank und will sich in den Wald am Fuße des Fuji zurückziehen, um dort in Ruhe zu sterben. Mika, seine Freundin, steht ihm bei dem traurigen Unterfangen bei. In der Nacht sehen sie ein fernes Licht und bei Tag eine breite Spur quer durch den Wald aus weißen, geneigten Bäumen, die von einer Höhle namens „Drachenmaul“ ausgeht. Die Spur stammt von einem Geisterfluss, der aus Seelen Verstorbener besteht. Da Norio nichts zu verlieren hat, springt er in den Fluss – erstaunlicherweise geht es ihm danach besser. Er badet erneut darin, wird schließlich süchtig danach, zum Leidwesen Mikas. Bald verändert er sich auch optisch… Eine Horror-Groteske um eine Art Jungbrunnen, der es zu gut meint, der schließlich die vermeintlich positive Wirkung ins Negative kehrt. Wie alle Storys in diesem Band mit einem abrupten Ende.
Zum Abschluss bietet der Band mit „Schlaf ein“ eine Art Mystery-Krimi: Takuya Terada will eigentlich Anwalt werden. Jetzt wacht er immer wieder von Albträumen geplagt auf. Träume, in denen er nachts als Kapuzen tragender Messermörder unterwegs ist. In den Nachrichten sieht er, dass seine Träume real sind. Die Morde geschehen wirklich. Tatsächlich findet Takuya in seiner Wohnung Messer und Kapuzenmäntel, kann sich an deren Kauf aber nicht erinnern. Besitzt er eine gespaltene Persönlichkeit? Und warum erinnern die Taten an einen hingerichteten Serienkiller? Takuyas Freundin Kanami glaubt an seine Unschuld, will ihm helfen… Originell: Die Morde werden aus der Ego-Perspektive des Täters gezeigt, inkl. Kapuzenausschnitt. Auch diese Story findet nach ihrer vermeintlich schlüssigen Aufklärung ein verstörendes Ende nach Ito-Art. Ein Nachwort Itos zur Entstehung der Geschichten, die auf alten Ideen und Notizen basieren, schließt den Band ab. Teil zwei erscheint dann im Januar nächsten Jahres. (bw)
The Liminal Zone, Band 1
Text & Bilder: Junji Ito
224 Seiten in Schwarz-Weiß, Hardcover
Carlsen Verlag
16 Euro
ISBN: 978-3-551-80116-6