Abstiege sind immer so eine Sache, vom Berg meist einfach, auf der sozialen Leiter bitter, vor allem, wenn man ein Leben auf der Überholspur geführt hat, wie Rufus Himmelstoss. Der Lebemann und Partylöwe hat die Unverantwortlichkeit aber auch auf die Spitze getrieben: Frau und Kind vernachlässigt, besoffen einen Unfall verursacht, bei dem eine Familie umkam, Reißaus genommen und unter den Brücken gelandet. Dort sitzt er immer noch, 1977, als ihn die Polizei in Person der eifrigen Harriet Möller sucht, die einfach nicht akzeptieren will, dass die Fahrerflucht niemals aufgeklärt wurde. Harriet geht ihren Vorgesetzten derart auf die Nerven, dass sie suspendiert wird, während Rufus auf der Straße einen harten Überlebenskampf führen muss.
Unter dem Decknamen Roland Herzig kommt er schließlich in einer Suppenküche unter, wo ihn der Leidensgenosse Börni (im früheren Leben Architekt, dann aufgrund familiärer Probleme abgestürzt) unter die Fittiche nimmt und mahnt, Roland/Rufus solle im Rahmen der Möglichkeiten Wiedergutmachung betreiben. Geplagt von Blackouts und Flashbacks zur schicksalhaften Nacht, rappelt Rufus sich tatsächlich etwas auf und hilft Börni beim Organisieren von Nahrungsmitteln für die Suppenküche, in der mittlerweile niemand anders als Harriet tätig ist. Per Pfandflaschen-Sammeln kratzt er ein Jahr später sogar etwas Geld zusammen, das er anonym an seine Frau Conny schickt, die sich mit mehreren Jobs abmüht, um sich und den kleinen Sohn Victor durchzubringen. Eines Tages nimmt Rufus allen Mut zusammen und spricht Conny in der Kneipe an, in der sie kellnert – und kassiert prompt eine wüste Abfuhr…
In Teil 2 seiner autobiographisch angehauchten Graphic Novel über die Sünden der Väter kombiniert Uli Oesterle wieder meisterhaft parallele Zeitebenen und Beziehungsgeflechte: verwoben in die Story um den abwesenden Vater Rufus sind – auch optisch in blau abgesetzt – Szenen mit dem mittlerweile erwachsenen Victor, der wie sein Vater trinkt und nicht gerade ein verantwortungsvolles Familienoberhaupt abgibt. Der Comic-Zeichner, dem seine Schöpfung namens „Ulrich“ als Versuchung quasi im Nacken sitzt (die Oesterle durchaus ähnlich sieht), bringt bei einer Bergtour in einer Mischung aus Leichtsinn und Kater sich und seinen Sohn Bela in Gefahr, als er den Schlern, das Wetter und seine Form völlig falsch einschätzt. Inwiefern, so die Frage, kann sich der Sohn überhaupt anders entwickeln als der Vater, der mit seiner Verantwortungslosigkeit einen Schatten über die Familie warf?
Bewegend sind dabei vor allem die Szenen des kleinen, verlassenen Victor, der in seinem Kinderzimmer alle Insignien der ausgehenden 70er versammelt und sich auch in Comics flüchtet – darunter die von Oesterle originalgetreu nachgezeichnete Ausgabe 1 der „Spinne“ aus dem seligen Condor-Verlag, die 1980 an den Kiosken zu haben war. Oesterle gelingt hier erneut das Kunststück, einen zutiefst tragischen und bedeutungsschweren Stoff mit genau der Prise Humor und Andeutungen zu präsentieren, die das Geschehen bei aller Gravitas unterhaltsam machen – wobei auch Münchner Lokalkolorit nicht fehlen darf, eine Flasche mit dem guten Augustiner (von uns stets „Landbier“ genannt) inklusive. Wir sind gespannt, wie die Saga um den Vater, der seine Verfehlungen korrigieren möchte, weitergeht. (hb)
Vatermilch, Buch 2: Unter der Oberfläche
Text & Bilder: Uli Oesterle
144 Seiten in Farbe, Hardcover
Carlsen Verlag
25 Euro
ISBN: 978-3-551-71159-5