Jaybird (Erko)

Oktober 16, 2015

Jaybird (Erko)

Unheimlich, dunkel und bedrohlich ist es in dem alten Haus, in dem der kleine Jaybird wohnt. Wie ein Diener versorgt er seine dahinsiechende Mutter, die Tag und Nacht über eine improvisierte Klingenanlage nach ihm verlangt – er muss sie füttern und saubermachen, darin besteht sein Lebensinhalt. Er selbst haust in einem kleinen Zimmerchen, auf seinen Wegen durch die Korridore wird er nur beobachtet von schier endlosen Reihen von Gemälden. Bis Jaybird schließlich eine überraschende Freundschaft schließt: eine kleine Spinne, die ihn zuerst ängstigt, ermutigt ihn dazu, doch auch einmal einen Blick durch die brettervernagelten Fenster nach draußen zu riskieren. Als er glaubt, seinerseits von außen beobachtet zu werden, eilt er zu seiner Mutter und will ergründen, warum die beiden einsam in dem riesigen, verbarrikadierten Herrenhaus ihr Dasein fristen.

Die Mutter antwortet mit einer schaurigen Mär: in der Außenwelt lauern böse Vögel, die nur darauf warten, kleinen Jungs wie Jaybird die Augen auszuhacken. Nur drinnen ist er sicher, und deshalb muss er seine Mutter aufopferungsvoll pflegen, damit die bösen Wesen nur ja nicht auf die Idee kommen, es könne hier etwas zu holen sein. Aber in Jaybird wächst die Neugier: nachdem er ein weiteres Zimmer mit einem längst verstorbenen Familienmitglied entdeckt, nimmt er sich das Bajonett seines verstorbenen Vaters, kappt die Klingelschnur, mit der ihn seine Mutter permanent rufen kann, und nähert sich der Türe. Als plötzlich ein Fremder Einlass verlangt, öffnet Jaybird erstmals seit langer Zeit die Pforte zur Außenwelt – aber im entscheidenden Moment überkommen ihn die von seiner Mutter geschürten Ängste, und er begeht eine Affekt-Tat, die sein Schicksal endgültig besiegelt.

Jaybird im alten, finsteren Haus

Jaybird im alten, finsteren Haus

Außergewöhnlich, erschreckend, aufwühlend: in dieser vollkommen zu Recht mehrfach preisgekrönten Graphic Novel (u.a. bestes illustriertes Buch des Jahres 2012 in Finnland, beste Graphic Novel auf dem Festival in Lucca 2014) erzählen die finnischen Zwillinge Jaakko und Lauri Ahonen eine auf den ersten Blick einfache Geschichte, die sich zu einer der verstörendsten Fabeln steigert, die man seit langem erleben durfte. In visuell atemberaubender, leicht stilisierter Aufmachung spiegelt Jaybird typische kindliche Ängste wie Furcht vor Dunkelheit und Alleinsein vor dem Hintergrund von emotionaler Manipulation und Ausbeutung. Die offenkundig vom Krieg, dem auf irgendeine nicht geklärte Weise auch der Ehemann zum Opfer fiel, traumatisierte Mutter flößt ihrem Sohn gezielt Furcht ein, um sich mit ihm vollständig von der Welt zu isolieren und ihn zum gefügigen Sklaven zu machen. Gerade als Jaybird sich aus ihrer Umklammerung zu lösen scheint und ihm die Wahrheit dämmert – er hatte einst noch Geschwister und eine glückliche Familie, und das Böse liegt wohl eher in der ihn ausbeutenden Mutter – schnappt die Falle der Psychose auch bei ihm zu, was dem Geschehen eine besondere Tragik verleiht.

Nahezu ohne Dialog gestalten die Ahonens das Geschehen ganz im Geiste klassischer filmischer Psychodramen, angefangen von den Kammerspielen eines Carl Mayer über die Wahnvorstellungen der Figuren eines Edgar Allen Poe bis hin zur dominanten Mutterfigur, die das Bates Motel tyrannisiert – nicht umsonst schwört Jaybird der Mutter am Ende nochmals ewige Treue – , und den in ihrer bewusst herbeigeführten Angst gefangenen Dörflern in ‚The Village‘. Die Verheerung von Geist und Körper durch den Krieg erscheint hier als Ursache einer kaltblütig herbeigeführten psychologischen Verletzung und Rückzug in eine illusorische Alptraumwelt, in der nur noch das enge eigene Korsett aus Raum und Geist Rettung zu bieten scheint. Eine zutiefst beängstigende Reise in die Abgründe des Seins, die durch ihre symbolhafte Umsetzung als Fabel nur noch an Eindringlichkeit gewinnt. Groß, bewegend, nachwirkend. Applaus für Ervin Rustemagic, der dieses geniale Werk in seinem neu gegründeten Erko-Verlag auch zu uns bringt. (hb)

Jaybird
Text & Bilder: Jaakko Ahonen & Lauri Ahonen
128 Seiten in Farbe, Hardcover
Erko Verlag
19,95 Euro

ISBN: 978-90-89820-94-5

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