Ein neues Land (Carlsen)

August 11, 2015

Ein neues Land (Carlsen)

Irgendwo, in einer nicht näher beschriebenen, und damit allgemeingültigen Stadt. Eine Familie nimmt Abschied: der Vater flieht, vor politischer Verfolgung, die in Form von bösen Schatten durch die Straßen schleicht. Frau und Kind bleiben einsam zurück. Ein Schiff voller weiterer Leidensgenossen überquert den Ozean, hin zu einer futuristischen Metropole am Meer. Dort wird der Vater mit tausenden Einwanderern nach langem Prozedere aufgenommen, nimmt sich eine kärgliche Wohnung und versucht unter Mühen ein neues Leben aufzubauen. Er sehnt sich nach seiner Familie, die in der Heimat unter immer neuen Unbillen zu leiden hat. Er findet Arbeit in einer Fabrik, während daheim der Krieg hereinbricht und es immer fraglicher wird, ob er seine Lieben jemals wiedersehen wird…

‚Ein neues Land‘ ist ein Geniestreich, ein allgemeingültiges Portrait aller Vertriebenen, Flüchtlinge und Migranten, bewusst nicht explizit verortet und dennoch klar auf die Auswanderungswelle in die USA während des Nazi-Regimes bezogen. Der Australier Shaun Tan baut dabei ausschließlich auf die suggestive Kraft der Bilder: kein Wort Dialog, keine Silbe Beschreibung stört den erzählerischen Fluss, der dennoch in jeder Sekunde intuitiv verständlich und einfühlsam gestaltet ist. Nach eigenen Aussagen benutzte er dabei als Vorlagen Fotografien, Ansichtskarten und Gemälde sowie die Schilderungen von Migranten aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die ihre Flucht aus Not und Bedrängnis beschreiben. Viel wichtiger allerdings erscheinen die Referenzen auf ein anderes Medium, das in den Anfangszeiten ebenfalls versuchte, ohne Schrift auszukommen: mehr als einmal zeichnet Tan Szenen nicht nur aus den von ihm selbst angeführten, italienischen neorealistischen ‚Fahrraddieben‘, sondern aus deutschen Stummfilmen nach, von der bedrückenden Atmosphäre der Heimat, die expressionistisch gehalten an ‚Das Kabinett des Dr. Caligari‘ angelehnt ist, über die apokalyptischen Reiter aus Murnaus ‚Faust‘ bis hin zu – natürlich – der glitzernden zweigeteilten Zukunftswelt von Fritz Langs ‚Metropolis‘, das sich sowohl in den himmelsstürmenden Wolkenkratzern als auch der entmenschlichten Maschinenwelt zeigt.

Tan, dessen filmisches Verständnis schon in seinem Oscar prämierten Animationsfilm ‚The Lost Thing‘ glänzte, setzt sich dabei erzähltechnisch in die Tradition des großen Carl Mayer, dessen Stummfilmdrehbücher zunehmend ohne jeden Zwischentitel rein visuell wirkten und somit die Reinheit des Mediums beschworen, so etwa in Murnaus Sozialgroßstadtdrama ‚Der letzte Mann‘ oder auch ‚Sunrise‘, wo ebenfalls der Kontrast zwischen Land und Großstadt in visueller Opulenz im Mittelpunkt steht. So wie der Film versuchte, sich als künstlerisches Kammerspiel von der reinen Rummelplatzattraktion der Anfänge abzuheben, emanzipiert sich die Graphic Novel in dieser Form gegen die gängigen Zack-Bumm-Klischees: Tans Graphic Novel weist damit weit über den Kontext des Comics hinaus in eine der kunstvollsten erzählerischen Linien, die Europa jemals hervorgebracht hat, und liefert zusammen mit der gerade heute leider wieder sehr aktuellen Flüchtlingsproblematik damit ebenso zeitgemäßen wie verwurzelten, im positivsten Sinne künstlerischen Lesestoff.

Wie auch ‚Blankets‘ erscheint der Band bei Carlsen als Wiederveröffentlichung in der preisgünstigen Reihe ‚Graphic Novel Paperback‘. Weiterhin erhältlich sind die Hardcover-Ausgabe (€ 29,90) und die erweiterte Sonderausgabe mit Skizzenbuch im Schuber (€ 49,90). (hb)

Ein neues Land (Graphic Novel Paperback)
Text & Zeichnungen: Shaun Tan
128 Seiten in Farbe, Softcover
Carlsen Verlag
14,99 Euro

ISBN: 978-3-551-71378-0

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